In «Drive My Car» bietet Ryūsuke Hamaguchi eine intelligente Inszenierung, die über das Mass der eigenen Geschichte hinausgeht und Raum für all die grossen und kleinen, realen und fiktiven Erzählungen bietet. Ein wahres Vergnügen bedachten und klugen Autorenkinos.
Die Eheleute Yūsuke (Hidetoshi Nishijima) und Oto Kafuku (Reika Kirishima) sind ein leidenschaftliches Paar. Er ist Theaterregisseur und -darsteller, sie ist Drehbuchautorin fürs Fernsehen, beide teilen sie eine besondere Hingabe für Geschichten. Doch obwohl es eben diese Geschichten und gelernten Texte sind, die das Paar verbindet, trennen sich die gemeinsamen Wege, voller ungesagter Worte. Eine verpasste Gelegenheit, die Yūsuke noch Jahre später quält. Denn während er die letzten Worte Otos verpasste, ist es ihre Stimme, die ihn fortan in Kassettenform im Auto begleitet.
Als er einige Zeit später an einem Theaterfestival «Onkel Wanja» von Anton Tschechow inszenieren soll, wird ihm die junge Fahrerin Misaki (Tōko Miura) zugeteilt, mit der Yūsuke fortan schweigende Stunden im Auto verbringt. Ruhige Momente, die er angesichts der aufreibenden Vorbereitungen für das Stück, bei dem auch Otos einstiger Liebhaber Kōji Takatsuki (Masaki Okada) mitmischt, dringend benötigt. Diese Produktion wird für Yūsuke zur Auseinandersetzung mit sich selbst und Otos Vermächtnis, bei der nicht zuletzt seine Fahrten mit Misaki eine wichtige Rolle spielen.
«Er schafft ein Wechselspiel zwischen den ruhigen Momenten, während der Fahrten und den stillen Interaktionen der Figuren, sowie der Sprachvielfalt und all den bedeutsamen Wortwechseln innerhalb der Handlung rund um Yūsukes mehrsprachige ‹Wanja›-Interpretation.»
Ryūsuke Hamaguchi («Happy Hour», «Asako I & II») präsentiert mit «Drive My Car» eine intelligente Inszenierung nach der gleichnamigen Kurzgeschichte von Haruki Murakami. Er schafft ein Wechselspiel zwischen den ruhigen Momenten, während der Fahrten und den stillen Interaktionen der Figuren, sowie der Sprachvielfalt und all den bedeutsamen Wortwechseln innerhalb der Handlung rund um Yūsukes mehrsprachige «Wanja»-Interpretation. Doch auch die Geschichten von Tschechow, Murakami und Hamaguchi interagieren miteinander – eine konzeptionelle Meisterleistung.
Dieses wunderbare Stück klugen Autorenkinos wird jedoch auch von seinen grossartigen Darsteller*innen mitgetragen. So kann Hidetoshi Nishijima als schweigsamer, doch selbstbestimmter Witwer brillieren, ohne dabei auf eine Vielzahl von Dialogen zurückgreifen zu müssen. Dabei ist Yūsukes Entwicklung nicht nur über gravierende Ereignisse separiert; insbesondere seine charakterliche Evolution verlangt Nishijima ein Schauspiel ab, das dem Publikum seine innere Zerrissenheit überzeugend vermittelt.
Aber auch Tōko Miura als seine noch schweigsamere Fahrerin weiss die stillen Szenen zu nutzen und zu jedem Moment dem komplexen Charakter Misakis absolut gerecht zu werden. Ebenso Masaki Okada der in seiner Rolle als Jungschauspieler Takatsuki die unterschiedlichen Facetten dieser gewichtigen Nebenfigur hervorragend darstellt. Eine wirklich gekonnte Leistung Okadas, der es schafft, die Nuancen greifbar zu machen, ohne sie auszureizen.
«Ein wohl durchdachtes und grandios geschriebenes Drama, welches das Publikum mit in eine Welt der Sprachen, der Gespräche, aber auch des Schweigens nimmt.»
«Drive My Car» ist ein Film über Stille, aber auch einer über den Raum, den man allzu oft mit jeglichen Worten zu füllen versucht, anstelle eines inneren Austauschs zwischen der eigenen Wahrheit und dem zu schützenden Ich. Hamaguchi bietet innerhalb seines dreistündigen Werks seinen Figuren genug Zeit und Raum, sich zu entwickeln und zu präsentieren, ohne dabei auch nur einmal den Anschein einer unnötigen Länge zu erwecken. Ein wohl durchdachtes und grandios geschriebenes Drama, welches das Publikum mit in eine Welt der Sprachen, der Gespräche, aber auch des Schweigens nimmt.
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Kinostart Deutschschweiz: 6.1.2022
Filmfakten: «Drive My Car» («ドライブ・マイ・カー», «Doraibu mai kā») / Regie: Ryūsuke Hamaguchi / Mit: Hidetoshi Nishijima, Tōko Miura, Masaki Okada, Reika Kirishima / Japan / 179 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Sister Distribution
Ryūsuke Hamaguchi beweist in «Drive My Car», wie unaufgeregt wirklich grosse Geschichten erzählt werden können und sollten. Ein wundervoller Film über Kunst und Menschlichkeit.
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