Jonathan Entwistle («The End of the F***ing World») inszeniert mit «I Am Not Okay with This» ein nostalgisches High-School-Drama à la Stephen King über einen Teenager mit Superkräften und nutzt die bewährte Metapher, um von Trauma, dem Aufwachsen und dem Entdecken der eigenen Sexualität zu erzählen.
Sydney Novak (Sophia Lillis, bekannt aus den neuen «It»-Filmen) ist ein langweiliges, 17-jähriges, weisses Mädchen. Mit diesen Worten stellt sie sich dem Publikum zumindest vor, während sie, allein und unbeachtet, durch die Hallen ihrer Schule schreitet. In dieser Beschreibung fehlen allerdings einige wichtige Fakten zu ihrer Person: Das letzte Jahr hat die mürrische Aussenseiterin in tiefer Trauer verbracht, seit ihr Vater sich im Keller des Familienhauses das Leben nahm. Trost bietet ihr die beste – und einzige – Freundin Dina (Sofia Bryant) – in die sie auch, ganz heimlich, verliebt ist. Dass Dina, die nichts von der verborgenen Schwärmerei weiss, derweil mit einem Football-spielenden Schönling (Richard Ellis) anbandelt, ist Sydneys überbordendem Gefühlschaos nicht zuträglich. Und die langweiligste aller Tatsachen: Wann immer Sydney von starken Emotionen übermannt wird, fliegen Verkehrsschilder durch die Luft, knicken Bäume ein wie Streichhölzer oder bluten die Nasen von unliebsamen Mitmenschen.
Ein Teenager mit telekinetischen Superkräften – so weit, so bekannt. Tatsächlich macht die Serie – wiederum basierend auf dem gleichnamigen Comic von «The End of the F***ing World»-Autor Charles Forsman – keinen Hehl aus ihrer Inspiration: Stephen Kings Horror-Klassiker «Carrie», 2013 zuletzt verfilmt mit Chloë Grace Moretz in der Hauptrolle. Auch in dieser Serie geht es um tief verankerte Ängste, um das Anderssein, um die alltäglichen Grausamkeiten, zu welchen Jugendliche fähig sind. Und auch sie endet mit einer blutüberströmten Protagonistin – ein eindringliches Bild, das bereits in den ersten Momenten der ersten Episode als dunkle Vorahnung aufblitzt.
«Auch in dieser Serie geht es um tief verankerte Ängste, um das Anderssein, um die alltäglichen Grausamkeiten, zu welchen Jugendliche fähig sind.»
Die Serie transportiert die Teenagersorgen allerdings geschickt von den Siebzigerjahren ins 21. Jahrhundert – wenn auch ein 21. Jahrhundert das, «Stranger Things» sei Dank, mit seiner Musikwahl, seiner Obsession für Platten und Videokassetten und den gedämpften, körnig anmutenden Farben stark an die momentan allgegenwärtigen Achtziger erinnert. Während bei «Carrie» die Religion und die körperliche Pubertät den Quell des Andersseins und der Diskriminierung bildete, werden die verheimlichten Superkräfte in diesem Fall zur wirksamen Metapher für die Sexualität seiner Protagonistin: Beide sind zunächst sogar für sie selbst ein Geheimnis und werden langsam, vorsichtig und sehr zurückhaltend erkundet; beide sind so überwältigend, dass sie sie vor allen verstecken möchte. Wie es so oft der Fall ist beim Aufwachsen, steht ein einziger übermächtiger Wunsch im Zentrum: «normal» zu sein, unsichtbar, dazuzugehören – ein Ziel, das fiese Mitschüler nur selten würdigen und somit für ausufernde Konflikte sorgt.

I AM NOT OKAY WITH THIS
«Dem talentierten Teen-Cast rund um Lillis, Bryant und Wyatt Oleff beim Aufwachsen zuzusehen, dazu eine sorgsam kuratierte Indie-Playlist zu hören und sich voller Schrecken und Sehnsucht an die eigene unverstandene Teenagerzeit zu erinnern, macht aber trotzdem Spass.»
Das Rad erfindet «I Am Not Okay with This» mit seinen ewig verfehdeten High-School-Cliquen – Nerds, Jocks und Cheerleadern –, ihren geborgt-nostalgischen Bildkompositionen und ihrer «Ich bin 17 und niemand versteht mich»-Thematik nicht. Dem talentierten Teen-Cast rund um Lillis, Bryant und Wyatt Oleff (ein weiterer «It»-Veteran) beim Aufwachsen zuzusehen, dazu eine sorgsam kuratierte Indie-Playlist zu hören und sich voller Schrecken und Sehnsucht an die eigene unverstandene Teenagerzeit zu erinnern, macht aber trotzdem Spass. Dass die Serie in ihren allerletzten Minuten in bizarre Low-Budget-Splatter-Gefilde abdriftet, ist dabei das unterhaltsame Tüpfelchen auf dem i.
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Serienfakten: «I Am Not Okay with This» (1. Staffel) / Developer: Jonathan Entwistle, Christy Hall / Regie: Jonathan Entwistle / Mit: Sophia Lillis, Wyatt Oleff, Sofia Bryant, Kathleen Rose Perkins / USA / 7 Episoden à 19–28 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Netflix
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