In «Thelma» von Josh Margolin fällt die 93-jährige Titelfigur auf einen Telefonbetrüger herein und wird um 10’000 Dollar betrogen. Weil sie sich dafür schämt, was ihr passiert ist, legt sie ihr Stickzeug zur Seite und beschliesst, ihr Geld zurückzuholen. Eine abenteuerliche Jagd durch Los Angeles beginnt. Denn Thelma ist nicht nur hinter den Gaunern her: Ihre besorgte Familie ist auch hinter Thelma her.
Der Schock sitzt zunächst tief, als dieser scheinbar verzweifelte Anruf von einem jungen Mann kommt, der sich als Enkel ausgibt und behauptet, er sei in einen Unfall verwickelt worden und könne nur gegen 10’000 Dollar Kaution aus der Haft entlassen werden. Doch Thelma (June Squibb) reagiert sofort: Sie befolgt die Anweisungen und schickt das Bargeld an eine Adresse am anderen Ende der Stadt, derweil ihr echter Enkel, der arbeits- und orientierungslose Danny (Fred Hechinger), zu Hause den Tag verschläft.
Es ist nicht das erste Mal, dass Thelma von der Welt etwas überfordert ist. Doch die quirlige Witwe will sich das Gerede von Tochter (Parker Posey) und Schwiegersohn (Clark Gregg) über ihre angebliche Gebrechlichkeit und einen prophylaktischen Umzug in ein Seniorenheim nicht gefallen lassen.
Danny wiederum, der sich sonst liebevoll um seine Grossmutter kümmert, hat ein schlechtes Gewissen und wird unwissentlich in Omas Rachepläne hineingezogen. Denn diese sucht mit seiner Hilfe ihren einzigen noch lebenden Bekannten, den übervorsichtigen Ben (Richard Roundtree), im Altersheim auf, um mit ihm und seinen Elektroroller die Halunken zu stellen.

June Squibb, Clark Gregg, Parker Posey und Fred Hechinger in «Thelma» / © Universal Pictures International Switzerland. All Rights Reserved.
Josh Margolins rasante Actionkomödie «Thelma» ist zwar naturgemäss nur wenig rasant, da die alten Knochen nicht mehr so mitspielen und ein E-Scooter keine 30 Stundenkilometer fahren kann – aber dennoch beweist das exzentrische greise Paar, dass man auch im hohen Alter noch aus seiner Komfortzone herausgeholt werden kann und dank einer gehörigen Portion Sturheit nicht in der Opferrolle verharren muss. Da werden sogar die Hörgeräte dank Bluetooth in Walkie-Talkies umfunktioniert und die Verwandten auf falsche Fährten gelotst.
June Squibb («Nebraska»), die hier mit 93 Jahren ihre allererste Hauptrolle spielt ist, verkörpert die Gebrechlichkeit des Alters auf herzerwärmende Weise. In jedem ihrer faltigen Gesichtszüge kann man Thelmas Gefühlswelt lesen, von der Einsamkeit, wenn sie abends bei schummrigem Licht ihre vielen Tabletten sortiert, bis zur Verzweiflung, wenn ihre Tochter im Nebenzimmer über ihre beginnende Senilität spricht, als begriffe sie nicht, was um sie herum passiert. Aber auch Thelmas Entschlossenheit, ihre Zuversicht und ihr Einfallsreichtum bleiben dem Publikum nicht verwehrt, selbst wenn sie an simplen Aufgaben, wie zum Beispiel dem Schliessen eines Werbefensters am PC zu scheitern droht.
«Dass Rache, ganz der Tagline des Films gemäss, süss sein kann, spiegelt sich nicht nur in der Altersdiabetes der Protagonist*innen wider, sondern in der ganzen kleinen Welt, die Regiedebütant Margolin hier zeichnet.»
Dass sie mit Richard Roundtree («Shaft») – der hier in seiner letzten Rolle vor seinem Tod im Oktober 2023 zu sehen ist – an ihrer Seite auf Verbrecherjagd geht, macht umso mehr Spass, da sich beide punkto Sturheit nichts schenken. Thelma wirkt bisweilen naiv, während der vom Altersheim ziemlich begeisterte Ben – es gibt eine Theatergruppe und Aufsteh-Kurse! – auf dem Boden der Tatsachen bleibt.
Dass Rache, ganz der Tagline des Films gemäss, süss sein kann, spiegelt sich nicht nur in der Altersdiabetes der Protagonist*innen wider, sondern in der ganzen kleinen Welt, die Regiedebütant Margolin hier zeichnet. Alle gehen liebevoll und besorgt miteinander um, versinnbildlicht durch den herzensguten Enkel, der täglich bei Omi abhängt, weil er Zeit hat und sie abgöttisch liebt.

Richard Roundtree und June Squibb in «Thelma» / © Universal Pictures International Switzerland. All Rights Reserved.
Zugegeben, das alles mag hie und da etwas zu süss sein: Thelmas Altersbeschwerden wirken etwas übertrieben, denn mit ihrer Diagnoseliste könnte sie das Haus ohne fremde Hilfe wohl nicht mehr verlassen – geschweige denn eine Knarre klauen, um damit einen Computermonitor zu erschiessen. Doch damit bemüht sich der Film auch darum, sich nicht über alte Menschen lustig zu machen. Vielmehr will er zum Nachdenken anregen – darüber, wie lange man frei und selbstbestimmt leben kann, und was es braucht, damit das gelingt.
«Josh Margolin begegnet dieser sensiblen Seite des Älterwerdens auf humorvolle Weise und lässt die ernsten Themen im anrührenden Komödienformat für sich sprechen.»
Josh Margolins Erstling ist angelehnt an ein ähnliches Erlebnis mit seiner Grossmutter, das aber noch rechtzeitig abgewendet werden konnte – sprich, bevor sie Geld von der Bank holte. In «Thelma» begegnet er dieser sensiblen Seite des Älterwerdens auf humorvolle Weise und lässt die ernsten Themen im anrührenden Komödienformat für sich sprechen. Seine inzwischen 99-jährige Oma darf man sogar im Abspann kurz sehen.
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Kinostart Deutschschweiz: 17.10.2024
Filmfakten: «Thelma» / Regie: Josh Margolin / Mit: June Squibb, Fred Hechinger, Richard Roundtree, Parker Posey, Clark Gregg, Malcolm McDowell / USA / 98 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Universal Pictures International Switzerland
«Thelma» von Josh Margolin ist eine wunderbare Hommage an die Selbstbestimmung älterer Menschen – mit allem, was zum Altern dazugehört. Ein kurzweiliger Spass für die ganze Familie.
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