Ein Esel auf Wanderschaft: «EO» wandelt auf den Spuren von einem der ganz grossen Klassiker des französischen Kinos – und äussert sich dabei explizit gegen Tierquälerei. Regisseur Jerzy Skolimowski ist damit nicht weniger als ein hervorragendes Spätwerk gelungen.
Jerzy Skolimowski hat nichts mehr zu beweisen. Der polnische Filmemacher ist 84 Jahre alt, sein Regiedebüt feierte er 1960, und mit Werken wie «Le départ» (1967), «Deep End» (1970), «The Shout» (1978) und «Moonlighting» (1982) hat er sich schon lange in den Kanon des europäischen Festivalfilms eingeschrieben. Ja, dank kleinerer Schauspiel-Engagements in Budget-Produktionen wie «Mars Attacks!» (1996), «Eastern Promises» (2007) und «The Avengers» (2012) dürfte er sogar beim einen oder anderen Mainstream-Publikum einen Eindruck hinterlassen haben.
Vielleicht ist gerade das der Grund, warum sich Skolimowski in seinem neuesten Film an eine heilige Kino-Kuh – oder vielmehr einen heiligen Esel – heranwagt: «EO» heisst das gute Stück und handelt von einem Esel namens EO, der von Besitzer*in an Besitzer*in weitergereicht wird und so innert gut eineinhalb Filmstunden die Menschheit im Querschnitt kennenlernt.
«‹EO› ist ein in der Arthouse-Szene seltenes Phänomen: ein (verkapptes) Remake eines etablierten Klassikers.»
Freund*innen des französischen Kinos dürften hier aufhorchen: Das klingt verdächtig nach Robert Bressons Esels-Odyssee «Au hasard Balthazar» (1966), der von Kritiker*innen und Filmschaffenden schon seit Jahrzehnten als wegweisendes Meisterwerk geschätzt wird und es erst kürzlich wieder in die Top 25 der zehnjährlichen «Sight & Sound»-Liste der besten Filme aller Zeiten geschafft hat. Tatsächlich ist «EO», obschon die Namen Bresson und Balthazar nirgendwo im Abspann zu finden sind, ein in der Arthouse-Szene seltenes Phänomen: ein (verkapptes) Remake eines etablierten Klassikers.
Doch obwohl sich EOs und Balthazars jeweilige Reisen formal nicht allzu stark voneinander unterscheiden – beide verschlägt es mehr oder weniger zufällig in Szenarien, in denen sich ihnen die Abgründe der menschlichen Kaltherzigkeit offenbaren –, legt Skolimowski den Fokus weniger auf den menschlichen als auf den tierischen Aspekt der Affiche.
EO, gespielt von den sechs Eseln Ettore, Hola, Marietta, Mela, Rocco und Tako, ist ein nicht weiter bemerkenswertes Nutztier in einer menschengemachten Welt von Pferdezuchten, regulierten Wäldern, Schlachthöfen und aus «Abfallfleisch» hergestellter Salami. Die Grausamkeit, deren Zeuge er wird und die er in gewissen Szenen auch am eigenen Leib erfährt, mag, wie schon bei Bresson, einiges über die menschliche Natur aussagen, von familiären Zwisten zwischen Lorenzo Zurzolo und Isabelle Huppert bis hin zum bizarren Versuch eines Lastwagenfahrers (Mateusz Kościukiewicz), eine Migrantin in sein Führerhaus zu holen. In einer an einem hitzig geführten Fussballspiel aufgehängten Sequenz scheint sich Skolimowski gar an einer pessimistischen Miniatur über die Zerrissenheit der polnischen Gesellschaft zu versuchen.
«Letzten Endes erzählt ‹EO› aber primär vom Tiersein in dieser von Gewalt, Eigennutz und Niedertracht geprägten Menschengesellschaft, von der bitteren Erkenntnis, ein ‹niederes› Wesen zu sein, dessen Leben, so der allgemeine Konsens, viel weniger wert ist als ein Menschenleben.»
Letzten Endes erzählt «EO» aber primär vom Tiersein in dieser von Gewalt, Eigennutz und Niedertracht geprägten Menschengesellschaft, von der bitteren Erkenntnis, ein «niederes» Wesen zu sein, dessen Leben, so der allgemeine Konsens, viel weniger wert ist als ein Menschenleben. Wie glücklich kann so ein Leben denn realistischerweise sein, wenn den Menschen bereits ein enttäuschendes Sportergebnis als Anlass genügt, um mit Baseballschlägern aufeinander loszugehen?
«Durch EOs Augen wird die nächtliche Jagd auf einen ‹Problemwolf› zum von Laserstrahlen durchdrungenen Albtraum. Eine simple Zirkusnummer verwandelt sich in eine schwindelerregende Kreisbewegung, begleitet von einer surreal pulsierenden Geräuschkulisse.»
Skolimowskis Antworten sind ebenso ernüchternd wie ästhetisch virtuos, auch weil sich der Film immer wieder von klassischen Inszenierungskonventionen lossagt und das Publikum mithilfe von Michał Dymeks Kameraarbeit und Radoslaw Ochnios Tondesign in EOs Position versetzt: Durch seine Augen wird die nächtliche Jagd auf einen «Problemwolf» zum von Laserstrahlen durchdrungenen Albtraum. Eine simple Zirkusnummer verwandelt sich in eine schwindelerregende Kreisbewegung, begleitet von einer surreal pulsierenden Geräuschkulisse. Der Anblick von gigantischen Windrädern taucht das Bild in höllische Rottöne, lässt die Kamera jeglichen Halt verlieren und endet mit einer Krähe, die tot zu Boden klatscht. Gesprächs- und Handlungsfetzen bleiben anregend kontextfrei und wirken dadurch umso verwirrender, beängstigender. Eine Traumsequenz zeigt Aufnahmen eines Boston-Dynamics-Tierroboters, als würde EO versuchen, sich vorzustellen, wie ihn die Menschen wahrnehmen.
Sein finaler Gang in die metaphorische Unterwelt kommt indes ganz ohne stilistische Schnörkel aus, was Skolimowskis thematisches Anliegen unmissverständlich unterstreicht: Tiere sind lebende Wesen mit einem Recht auf Würde und Schutz. Man kann das für eine plumpe Vereinfachung von «Au hasard Balthazar» halten, für die unreflektierte Tirade eines sentimentalen Tierfreundes. Doch im Zusammenspiel mit Skolimowskis eindrücklichem Filmhandwerk wirkt diese Botschaft nicht nur stimmig – sie geht durch Mark und Bein.
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Kinostart Deutschschweiz: 22.12.2022
Filmfakten: «EO» («IO») / Regie: Jerzy Skolimowski / Mit: Ettore, Hola, Marietta, Mela, Rocco, Tako, Sandra Drzymalska, Lorenzo Zurzolo, Mateusz Kościukiewicz, Isabelle Huppert / Polen, Italien / 88 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Frenetic Films AG
Mit «EO» hat der 84-jährige Jerzy Skolimowski einen Tierschutzfilm im Arthouse-Modus gemacht – und das funktioniert dank hervorragenden Filmhandwerks einwandfrei.
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