Mit Fotos seines alkoholkranken Vaters Ray und seiner kettenrauchenden Mutter Liz wurde der britische Künstler Richard Billingham international berühmt. Nun hat er den beiden mit «Ray & Liz» einen Spielfilm gewidmet, der als Familienporträt besser funktioniert denn als Milieustudie.
Schimmelnde Wände, in den Zimmerecken türmt sich der Hausrat, und die angejahrten Möbel sind ein Trauerspiel in Braun: Es ist leicht zu erkennen, wann und wo Richard Billingham seine Kindheit verbracht hat, an die er sich hier in bedrückender Authentizität erinnert. Es ist das England Margaret Thatchers – das neoliberale England der Achtzigerjahre, das England des geschröpften Sozialstaats, der sozialen Fragmentierung, der gebeutelten Unter- und Arbeiterschicht. Man kennt es aus den Filmen von Ken Loach – aus «Looks and Smiles» (1981), «Riff-Raff» (1991), «Raining Stones» (1993) – und dem Frühwerk von Mike Leigh – Working-Class-Elegien wie «High Hopes» (1988) und «Life Is Sweet» (1990).
In diesem England – genauer gesagt in einer Sozialwohnung im industriellen Westen Birminghams – wächst Richard (erst Jacob Tuton, später Sam Plant) zusammen mit seinem jüngeren Bruder Jason (Joshua Millard-Lloyd) auf. Ihre Eltern, der verschlossene Ray (Justin Sallinger) und die aufbrausende Liz (Ella Smith), sind arbeitslos. Die Sozialhilfe fliesst in Alkohol und Zigaretten.
Es wundert nicht, dass «Ray & Liz» primär auf Fotografien basiert, ist der Film doch in perfekt ausgeleuchteten Tableaux erzählt, die von Kameramann Daniel Landin in schonungslos starren Einstellungen eingefangen werden. Doch auch inhaltlich wird klar, dass sich der Regisseur vor allem als Beobachter versteht: Die Figur Richard Billingham ist hier nämlich in vielerlei Hinsicht eine Randerscheinung – eine stille Präsenz an der Bildperipherie, derweil sich im Zentrum der tierliebende Jason um eine normale Kindheit bemüht, während Ray und Liz immer tiefer im Armutssumpf versinken.
Billingham inszeniert dieses bedrückende Stück Autobiografie sichtlich empathisch, aber ohne jede Beschönigung, geschweige denn Romantisierung. Anders als bei einem Ken Loach ist Arbeitslosigkeit hier kein Ringen mit gesichts- und gefühllosen Behörden, keine Sisyphusarbeit, sondern ein langsamer Trek in Richtung emotionale Abstumpfung. Die viel besungene britische Arbeitersolidarität beginnt und endet hier damit, dass Liz einem Nachbarn erlaubt, sich in ihrem Glas voller Zigaretten zu bedienen, die sie in der U-Bahn gefunden hat.
«Diese fast schon ethnografische Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte weiss durchaus zu faszinieren, schwelgt bisweilen aber etwas zu sehr in der eigenen Trostlosigkeit.»
Diese fast schon ethnografische Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte weiss durchaus zu faszinieren, schwelgt bisweilen aber etwas zu sehr in der eigenen Trostlosigkeit: Nicht genug, dass Onkel Lawrence (Tony Way) betrunken über den Sofarand erbricht – das Erbrochene muss auch noch vom Familienhund aufgeleckt werden. Der Hund pinkelt nicht nur in den Flur, sondern auf wichtige Post; Jasons Hase sitzt in seinem eigenen Dreck auf einer Decke; selbst die Marmelade, von der Richards Bruder am liebsten nascht, hat etwas Abstossendes an sich. In diesen Momenten stellt sich die Frage, was Billingham mit diesem Film eigentlich bezwecken will. Eine gänzlich überzeugende Antwort darauf findet er nie.
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Kinostart Deutschschweiz: 9.5.2019
Filmfakten: «Ray & Liz» / Regie: Richard Billingham / Mit: Ella Smith, Justin Sallinger, Joshua Millard-Lloyd, Patrick Romer, Tony Way, Sam Gittins, Deirdre Kelly, Callum Slater, Jacob Tuton / Grossbritannien / 108 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Xenix Filmdistribution GmbH
«Ray & Liz» ist ein beeindruckendes, wenn auch bedrückendes Filmerlebnis, das immer wieder ein wenig über die Stränge schlägt.
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