Der Sinn des Lebens heisst Leben. Diese simple, aber treffende Weisheit bildet die Grundlage zu John Crowleys neuestem Spielfilm «We Live in Time» – nicht etwa in der Manier eines popeligen Tassenspruchs oder einer ausgelutschten Instagram-Caption, sondern als lebensnahe und -bejahende Liebesgeschichte eines jungen Paars, das mit einem schweren Schicksalsschlag zu kämpfen hat. In den Hauptrollen glänzen Sympathieträger Andrew Garfield und Multitalent Florence Pugh. Hinzu kommen viel Gefühl und genau die richtige Portion bittersüsser Situationskomik.
Dass die Beziehung von Weetabix-Mitarbeiter Tobias (Andrew Garfield) und Gourmetköchin Almut (Florence Pugh) alles andere als gewöhnlich ist, zeigt sich schon beim ersten Zusammentreffen (im wahrsten Sinne des Wortes): Er steckt mitten in der Scheidung und macht einen nächtlichen Spaziergang; sie fährt ihn an. Die beiden landen im Spital und kurz darauf in einem «typisch amerikanischen» Diner. Die Chemie und der Humor stimmen von Anfang an, und es kristallisiert sich schnell heraus, dass der zurückhaltende Nerd und die schlagfertige Gastronomin zusammengehören.
Gemeinsame Wohnung, gemeinsame Tochter – alles läuft nach Plan. Wäre da nicht diese schreckliche Diagnose, die von heute auf morgen alles auf den Kopf stellt: Almut hat Eierstockkrebs im dritten Stadium. Wie geht man als junges Paar, welches das Leben noch vor sich hat, mit so einem Horror um? Und wie macht man der eigenen Tochter klar, dass Mama bald nicht mehr da ist?
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Florence Pugh und Andrew Garfield in «We Live in Time» / © DCM Film
Obwohl der amerikanische Filmemacher und Schriftsteller John Crowley («Brooklyn», «The Goldfinch») das Rad mit dieser Geschichte nicht neu erfindet, kommt «We Live in Time» keineswegs als 0815-Liebesschnulze daher. Das liegt in erster Linie an den beiden Hauptfiguren, die von Anfang bis Ende vollumfänglich überzeugen. Mit überraschend viel Charaktertiefe ausgestattet und von Andrew Garfield («Under the Silver Lake», «The Amazing Spider-Man») und Florence Pugh («Midsommar», «Little Women») mitreissend gespielt, wickeln Tobias und Almut das Publikum im Nu um den Finger und laden es ein auf ihre emotionale Achterbahnfahrt.
«Der Film schafft es, auf erfrischend ruhige und nicht unnötig kitschige Art eine Beziehung darzustellen, die vom echten Leben inspiriert ist und sich immer mehr zu einem grossen, gemeinsamen Ganzen zusammenfügt.»
Dabei schafft es der Film, auf erfrischend ruhige und nicht unnötig kitschige Art eine Beziehung darzustellen, die vom echten Leben inspiriert ist und sich immer mehr zu einem grossen, gemeinsamen Ganzen zusammenfügt. Besonders viel Freude bereitet das, weil dies stets auf Augenhöhe passiert: Klischierte Stereotypen wie den starken Mann und die schwache Frau gibt es nicht – trotz der schwerwiegenden Erkrankung ihrerseits. Vielmehr wird das Publikum Zeug*in von zwei starken Individuen, die das Schicksal sowohl als Einzelpersonen als auch als Familie bei den Hörnern packen und das Beste daraus machen.
Die Magie auf die beiden Hauptfiguren zu beschränken, wird «We Live in Time» aber nicht gerecht. Wie es der Titel erahnen lässt, spielt auch der Aspekt der Zeit eine wichtige Rolle. Das zeigt sich vor allem in der Aufbereitung und Erzählweise der tragischen Geschichte. Statt den laufenden Zerfall einer kranken Person stringent abzubilden, streuen Crowley und Drehbuchautor Nick Payne («The Sense of an Ending») zentrale Schlüsselmomente und kurze Momentaufnahmen aus der gemeinsamen Dekade des Paares ein: die Eröffnung des eigenen Restaurants, ein befreiter Tanz durch die Wohnung, die aussergewöhnliche Geburt der Tochter. Das lockert alles auf und zeigt, warum Tobias und Almut so lieben und leben, wie sie es am Ende tun.
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Florence Pugh in «We Live in Time» / © DCM Film
Allerdings ist dieser kreative Kniff Fluch und Segen zugleich, da es an gewissen Stellen nicht ganz einfach ist, das Gezeigte auf Anhieb richtig einzuordnen. Hat Almut ihre Diagnose hier schon erhalten? Befindet sich das Paar an diesem Punkt am Anfang oder am Ende seiner Beziehung? Wie bei vielen filmischen Stilmitteln gewöhnt man sich aber auch hier schnell daran und kann in der zweiten Filmhälfte denn auch deutlich besser folgen. Das liegt auch am traurigen Fakt, dass sich Almuts Leben immer sichtbarer seinem Ende zuneigt.
«Dank einer Prise Situationskomik an den richtigen Stellen kommt es aber dennoch zum einen oder anderen Schmunzler.»
Wer sich jetzt davor fürchtet, zu Tode betrübt den Kinosaal zu verlassen, kann aber aufatmen. Zwar beschönigt das Liebesdrama keineswegs eine Krebserkrankung. Dank einer Prise Situationskomik an den richtigen Stellen kommt es aber dennoch zum einen oder anderen Schmunzler. Ein Paradebeispiel dafür ist der Moment, als das junge Paar erfährt, dass die erste Bestrahlung nicht anschlägt. Statt in der bedrückten Stille auszuharren, greift die Therapeutin (Marama Corlett) kurzerhand zu einer Schachtel Celebrations und bietet Almut und Tobias ein Stück Schokolade an. Niedergeschlagen, müde und entzückt zugleich, folgt ein kurzer Austausch zum herrlichen Geschmack von Bounty, Twix und Co. Schon ist der tödliche Elefant im Raum für einen kurzen Moment vergessen.
Gerade in diesen Szenen Hier beweist das Produktionsteam enormes Fingerspitzengefühl. Es ist eine veritable Gratwanderung, bei einem derart ernsten Thema die richtige Menge an Humor zu finden, um nichts ins Lächerliche zu ziehen. Doch Momente wie diese lassen den Film so lebensnah wirken, dass stellenweise fast der Eindruck entsteht, es handle sich um eine echte Geschichte.
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Andrew Garfield in «We Live in Time» / © DCM Film
«Ein wunderbarer Beweis dafür, wie schön das Leben und die Liebe mit dem richtigen Menschen an der Seite sein können.»
Die Grundidee einer tragischen Liebesgeschichte im Kontext einer schweren Krankheit ist schon oft über die Leinwand geflimmert – Stichwort «The Fault in Our Stars» (2014). Man könnte also fast meinen, Crowley sei ein Fan des Coming-of-Age-Dramas und habe sich zehn Jahre später den Wunsch erfüllt, ein «erwachsenes» Pendant zu schaffen. Trotzdem verdient «We Live in Time» einen eigenständigen Platz auf jeder Watchlist – allein schon, um das bewundernswerte Talent von Andrew Garfield und Florence Pugh zu erleben. Aber auch, weil die Geschichte ein wunderbarer Beweis dafür ist, wie schön das Leben und die Liebe mit dem richtigen Menschen an der Seite sein können.
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Kinostart Deutschschweiz: 9.1.2025
Filmfakten: «We Live in Time» / Regie: John Crawley / Mit: Florence Pugh, Andrew Garfield, Lee Braithwaite, Grace Delaney / Grossbritannien, Frankreich / 107 Minuten
Bild- und Trailerquelle: DCM Film
«We Live in Time» tut gut – wie eine wohlige Umarmung an einem trüben Tag. Irgendwo zwischen herzhaftem Schmunzeln, bitteren Tränen und phänomenalem Schauspiel.
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