Stéphane Brizé kennt man als Regisseur von intimen Sozialdramen. In der Maupassant-Verfilmung «Une vie» versucht er sich am historischen Kostümfilm. Das ist kunstfertig gemacht, wirkt aber eher steif.
Will man Brizés Sensibilitäten als Filmemacher umschreiben, führt kaum ein Weg am grossen Duo des englischen Thatcher-Kinos vorbei: Der Franzose bewegt sich in ähnlichen sozialen Kreisen wie Ken Loach, während seine subtilen, organischen Drehbücher stark an den Naturalismus eines Mike Leigh erinnern. Es ist eine erfolgreiche Kombination: «Je ne suis pas là pour être aimé» (2005), «Mademoiselle Chambon» (2009), «Quelques heures de printemps» (2012) und «La loi du marché» (2015) sind Höhepunkte des zeitgenössischen französischen Kinos.
Und nun versucht Brizé, seinen Stil auf eine vergangene Epoche anzuwenden – ähnlich Loachs Auseinandersetzungen mit dem frühen unabhängigen Irland in «The Wind That Shakes the Barley» (2006) und «Jimmy’s Hall» (2014); und wie Leighs Streifzüge durch das England des 19. Jahrhunderts in «Topsy-Turvy» (1999) und «Mr. Turner» (2014). «Une vie» setzt 1819 ein und zeigt das Leben der Baronesse Jeanne Le Perthuis des Vauds (Judith Chemla) – von den glücklichen Stunden im Schlösschen ihrer fürsorglichen Eltern (Yolande Moreau, Jean-Pierre Darroussin) über die fatale Ehe mit dem jungen Vicomte Julien Lamare (Swann Arlaud) bis hin zu einem Leben am Rande der Armut.
Die Handschrift des Regisseurs ist deutlich erkennbar. Die Kamera ist nahe an den Figuren dran; die Schauspieler flüstern und murmeln, sodass die lauteren, emotional geladenen Szenen umso eindrücklicher wirken; auf klare Darlegungen des Innenlebens der Charaktere wird verzichtet; vielmehr ist das Publikum angehalten, aus dem beobachteten Geschehen seine eigenen Schlüsse zu ziehen. «Une vie», der auf dem gleichnamigen Roman von Guy de Maupassant aus dem Jahr 1883 basiert, verlegt den Cinéma-vérité-Stil in die Zeit der Bourbon-Restauration.
Zwar ist das solide inszeniert – und ausnahmslos gut gespielt –, doch es fehlen die wahrlich griffigen Elemente. Loachs Zeitreisen haben ihr politisches Feuer, die von Leigh ihren einnehmenden Sinn für umfassende Authentizität. «Une vie» könnte irgendwann zwischen 1650 und 1850 spielen; die feministischen Ansätze sind zu zart, um dem Film zusätzliche Relevanz zu geben. So bleibt der Film ein makellos gemachtes, aber nur bedingt inspirierendes Kostümdrama, das im Schaffen Brizés eine Fussnote bleiben wird.
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Kinostart Deutschschweiz: 15.6.2017
Filmfakten: «Une vie» / Regie: Stéphane Brizé / Mit: Judith Chemla, Jean-Pierre Darroussin, Yolande Moreau, Swann Arlaud, Nina Meurisse, Finnegan Oldfield, Clotilde Hesme / Frankreich, Belgien / 119 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Xenix Films
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