Dank Filmen wie «Beginners» und «20th Century Women» geniesst Mike Mills den Ruf, ein Meister des hochgradig emotionalen Kinos zu sein. In «C’mon C’mon» stösst sein etablierter Stil jedoch an seine Grenzen.
Mike Mills kommt, wie viele andere Regisseur*innen, aus der Werbung, und das merkt man seinen Filmen auch an. Sowohl «Beginners» (2010) als auch «20th Century Women» (2017), seine beiden bekanntesten Werke bislang, zeichnen sich durch ihre effiziente, auf optimale emotionale Resonanz abzielende Inszenierung aus: Dort treffen schnelle, assoziative Schnitte auf prägnant formulierte Dialogzeilen und Monologe, in denen maximal melancholisch über die Tatsache philosophiert wird, dass so ein einzelnes Menschenleben zugleich verschwindend klein und unvorstellbar gross ist.
Diese beiden Filme fahren gut damit. «Beginners» ist Mills‘ berührende Hommage an seinen eigenen Vater und dessen spätes Coming-out, verpackt in eine äusserst charmante Tragikomödie. Im noch bewegenderen «20th Century Women» richtet er sich wiederum an seine Mutter und die anderen bemerkenswerten Frauen, die ihm in den Siebzigerjahren dabei halfen, ein einfühlsamer und verantwortungsbewusster Mann zu werden.
«So wirkungsvoll Mills‘ bevorzugte Stilmittel in diesen collageartigen Filmen auch eingesetzt wurden, so offensichtlich war, dass sich daraus kein längerfristig tragbares filmemacherisches Konzept ableiten lässt.»
Doch so wirkungsvoll Mills‘ bevorzugte Stilmittel in diesen collageartigen Filmen auch eingesetzt wurden, so offensichtlich war, dass sich daraus kein längerfristig tragbares filmemacherisches Konzept ableiten lässt. Bereits in «I Am Easy to Find» (2019), Mills‘ Begleit-Kurzfilm zum gleichnamigen Album von The National, waren erste Risse in der Wirksamkeit seiner Wiege-bis-zur-Bahre-Sentimentalität zu erkennen. Der Film, der in 27 dialoglosen Minuten von der Geburt, dem Leben und dem Sterben einer Frau (Alicia Vikander) erzählt, wirkt, als hätte jemand die Mills’sche Methodik bis zur Parodie komprimiert: Keine Szenen im klassischen Sinne, keine Figurenzeichnung, kein Kontext, nur Untertitel, die emotional konnotierte Szenarien kommunizieren – Wegzug aus dem Elternhaus, erste Liebe, Familiengründung, Krankheit, Tod.
In «C’mon C’mon» werden aus diesen Rissen tiefe Schluchten. Denn Mills‘ neuestes Werk repliziert nicht nur die polierte Schwarzweiss-Ästhetik und die musikalischen Stichwortgeber aus «I Am Easy to Find» – Kameramann Robbie Ryan («The Favourite», «Marriage Story») kehrt ebenso zurück wie die The-National-Mitglieder Aaron und Bryce Dessner –, sondern auch die fast schon fliessbandartige Abarbeitung emotionaler Gemeinplätze.
Im Zentrum steht dieses Mal der alleinstehende Radiojournalist Johnny (Joaquin Phoenix), der sich im Laufe der Demenzerkrankung seiner inzwischen verstorbenen Mutter mit seiner Schwester Viv (Gaby Hoffmann) verkracht hat, ihr nun aber aus der Patsche helfen muss: Vivs entfremdeter Ehemann (Scoot McNairy) braucht nämlich aufgrund einer psychischen Erkrankung ihre Hilfe, also muss jemand auf ihren neunjährigen Sohn Jesse (Woody Norman) aufpassen.
Obwohl Johnny gerade an einem Beitrag arbeitet, für den er quer durch die USA tingelt, um Kinder in Interviews über ihre Zukunftsvisionen auszufragen, traut er sich die aktive Onkelrolle zunächst nicht zu. Doch je mehr Zeit er mit dem fantasievollen, bisweilen geradezu ermüdend exzentrischen Jesse verbringt, desto mehr lernt er dessen Gesellschaft schätzen – und beginnt, sich selber Fragen über die eigene Vergangenheit und Zukunft zu stellen.
«Die Kombination von Robbie Ryans lichtdurchfluteten Schwarzweissbildern, die den diversen urbanen Schauplätzen – Los Angeles, New York, New Orleans – jeweils einen ganz eigenen Charakter verleihen, und den immer wieder auftretenden Szenenfragmenten, mit denen Mills das Gefühl von fetzenhaften Erinnerungen vermittelt, untermauert sein Talent als Schöpfer ausdrucksstarker, hochästhetischer filmischer Collagen.»
Wohlverstanden, an Mills‘ probaten Qualitäten als Regisseur rüttelt «C’mon C’mon» nicht. Im Gegenteil: Die Kombination von Robbie Ryans lichtdurchfluteten Schwarzweissbildern, die den diversen urbanen Schauplätzen – Los Angeles, New York, New Orleans – jeweils einen ganz eigenen Charakter verleihen, und den immer wieder auftretenden Szenenfragmenten, mit denen Mills das Gefühl von fetzenhaften Erinnerungen vermittelt, untermauert sein Talent als Schöpfer ausdrucksstarker, hochästhetischer filmischer Collagen.
Was sich hier allerdings als problematisch erweist, sind Mills‘ Drehbuch und Jennifer Vecchiarellos Schnitt, die sich, gerade im Vergleich zu «Beginners» und «20th Century Women», zu sehr auf die dem Stoff innewohnende Emotionalität verlassen und dadurch den nötigen erzählerischen Kitt vernachlässigen. Wurde die Highlight-Reel-Methode in «I Am Easy to Find» vom Kurzfilmformat und den narrativen Einschränkungen, die so ein Visual Album mit sich bringt, noch einigermassen gerechtfertigt, tut sich «C’mon C’mon» mit seiner sprunghaften Struktur keinen Gefallen.
Der Film und seine nachdrücklichen, fast schon überbordend tragischen Gesten – Einsamkeit und Depression, psychische Erkrankung, kindliche Bewältigungsmechanismen, ausgefranste Geschwisterliebe, das Trauma eines demenzkranken Elternteils – sind um das episodische Porträt der schwierigen Beziehung zwischen Johnny und Jesse herumgebaut. Eine typische Sequenz zeigt, wie Johnny mit einer weiteren von Jesses Schrullen konfrontiert wird – etwa seiner Angewohnheit, beim Zubettgehen so zu tun, als sei er ein Waisenkind –, seinen Schützling mit seiner negativen Affektreaktion vor den Kopf stösst, sich für seine fehlende Empathie schämt und in der Folge versucht, sich angemessen für sein Verhalten zu entschuldigen.
«Joaquin Phoenix und Woody Norman meistern diese undankbare schauspielerische Aufgabe allerdings hervorragend, schaffen sie es doch immer wieder, über ihre Funktion als Binsenweisheiten von sich gebende Vehikel hinauszuwachsen und für kleine, wunderbar menschliche Momente zu sorgen.»
Das führt mitunter zu durchaus anrührenden, hie und da sogar amüsanten Szenen, besonders gegen Ende, als Johnny den Spiess umdreht und versucht, gemeinsam mit Jesse ein Ventil für dessen unterdrückte Wutgefühle zu finden. Allzu oft jedoch verfällt Mills dabei ins ausufernde Philosophieren, ins deklamatorische Vortragen von bisweilen relativ banalen Beobachtungen über das menschliche Dasein, die in seinen früheren Filmen weitaus weniger plump daherkamen.
Eine präzisere Figurenzeichnung hätte dieser Tendenz vielleicht entgegenwirken können: Selbst abgedroschene Grübeleien über überforderte Kinder und emotional verschlossene Erwachsene, die sich in ihrer eigenen Welt nicht zurechtfinden, können mit der nötigen charakterlichen Erdung überzeugend wirken. Doch die beiden Protagonisten sind, auch wegen der elliptischen Erzählung, frustrierend rudimentär: Johnny zeichnet sich primär durch eine unscharf umrissene Traurigkeit aus, während Jesse kaum mehr als eine Sammlung mehr oder weniger niedlicher Marotten ist. Letztlich sind die beiden nicht wesentlich komplexer als die Kinder und Jugendlichen, die Johnny im Rahmen seiner Reportage interviewt (und deren Aussagen Mills mit einer für ihn gänzlich untypischen Willkür in seinem Film verteilt).
Joaquin Phoenix und Woody Norman meistern diese undankbare schauspielerische Aufgabe allerdings hervorragend, schaffen sie es doch immer wieder, über ihre Funktion als Binsenweisheiten von sich gebende Vehikel hinauszuwachsen und für kleine, wunderbar menschliche Momente zu sorgen. Das mag nicht genügen, um «C’mon C’mon» weniger oberflächlich, weniger hohl wirken zu lassen, doch es bewahrt Mills vor dem totalen Fehlschuss.
Über «C’mon C’mon» wird auch in Folge 41 des Maximum Cinema Filmpodcasts diskutiert.
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Kinostart Deutschschweiz: 17.3.2022
Filmfakten: «C’mon C’mon» / Regie: Mike Mills / Mit: Joaquin Phoenix, Woody Norman, Gaby Hoffmann, Scoot McNairy / USA / 108 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Pathé Films
Mike Mills verlässt sich in seinem neuen Film auf den emotionalen Autopiloten. Das geht schief: «C'mon C'mon» ist eine Parade abgedroschener, oberflächlicher Gemeinplätze.
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