Was passiert, wenn man den Meister der berührenden Kostümdramen einen klassischen Theaterstoff mit Unterstützung der schwermütigen Indie-Rocker von The National umsetzen lässt, zeigt der fabelhafte «Cyrano»: Das Musical-Drama von Joe Wright («Darkest Hour») bietet mutiges und gefühlsvolles Kino, das dem angestaubten Kostümfilmmaterial viel Neues abgewinnen kann.
Nach dem Ende jeder grossen Serie stellt sich die Frage, inwiefern es den Darsteller*innen gelingt, sich von den Figuren, die sie porträtierten, zu lösen. Nicht allen gelingt das gleich gut. Auch Peter Dinklage, der in «Game of Thrones» (2011–2019) den charismatischen Pläneschmieder Tyrion Lannister gab, war nach dem Ende der Mega-Serie vor allem als Sprecher bei Trickfilmen zu hören, ehe er 2020 im gefeierten Sorgerechts-Thriller «I Care a Lot» von J Blakeson einer fiesen Rosamund Pike eindrucksvoll die Stirn bot. Es war ein Versuch für Dinklage, der Rolle des ebenso liebenswürdigen wie schlauen Kleinwüchsigen, die ihm durch «Game of Thrones» praktisch auf den Leib geschrieben wurde, zu entschlüpfen. Mit «Cyrano» bewegt er sich hingegen wieder in bekannteren Gewässern: Sein Cyrano de Bergerac ist – ähnlich wie Tyrion Lannister – ein wortgewandter und wohlwollender Schlaumeier, der als Kadett in der französischen Armee auch mit der Klinge umgehen zu weiss.
Als ihm die von ihm angebetete Roxanne (Haley Bennett) ihre Liebe zu Christian de Neuvillette (Kelvin Harrison Jr.), einem anderen Kadetten, gesteht, sieht sich Cyrano in seiner Annahme bestätigt, dass er nie gut genug für Roxanne sein wird. Gleichzeitig sorgt sich Christian darum, dass ihm die Wortgewandtheit fehlt, um die anspruchsvolle Roxanne beeindrucken zu können. So beschliessen die beiden, dass Cyrano für Christian die Briefe an Roxanne schreibt: Cyrano kann so seine Gefühle zum Ausdruck bringen, während Christian vor Roxanne brillieren kann.
«‹Cyrano› hatte seinen Ursprung auf der Bühne, wo das Musical 2018 uraufgeführt wurde – Peter Dinklage und Haley Bennett übernehmen nun auch in der Verfilmung wieder die beiden Hauptrollen.»
Das Theaterstück «Cyrano de Bergerac» von Edmond Rostand aus dem Jahr 1897 wurde schon unzählige Male verfilmt und adaptiert – unlängst in einer modernisierten Fassung als deutsche Teenie-Komödie unter dem Titel «Das schönste Mädchen der Welt» (2018), in der es um junge Rapper, WhatsApp-Nachrichten und K.O.-Tropfen geht. Ganz so viele Freiheiten nimmt sich Joe Wright zwar nicht, doch auch seine Version spielt mit der Vorlage und inszeniert den klassischen Stoff als melancholisches Musical mit messerscharfen Lyrics, die bisweilen an «Hamilton» erinnern. «Cyrano» hatte, wie auch Lin-Manuel Mirandas Geschichtsstunde, seinen Ursprung auf der Bühne, wo das Musical von Erica Schmidt 2018 uraufgeführt wurde – Dinklage und Bennett waren schon da mit von der Partie und übernehmen nun auch in der Verfilmung wieder die beiden Hauptrollen.
Neu dabei sind unter anderem Kelvin Harrison Jr. («The Trial of the Chicago 7») als liebestoller Christian sowie Ben Mendelsohn («Rogue One: A Star Wars Story», «Babyteeth») als schmieriger De Guiche, der Roxanne für sich beanspruchen möchte, und dem der Plan der beiden Kadetten allmählich in die Quere kommt. Die beiden können ebenso überzeugen wie Haley Bennett («Swallow», «Hillbilly Elegy»), die als anspruchsvolle Roxanne nach grossen Gefühlen strebt und sich nicht mit Floskeln abgeben will: «Don’t you dare tell me you love me, I’ve heard that line before. I need more.» Das Herz des Films ist jedoch Peter Dinklage, der dem vom eigenen Stolz verletzten Cyrano wunderbar Leben einhaucht.
Und dann wäre da noch die Musik. Diese stammt von Aaron Dessner, Bryce Dessner, Matt Berninger und Carin Besser von der Indie-Rockband The National, die bereits die Musik zum originalen Musical schrieben. Wer mit der Gruppe aus Ohio vertraut ist, wird kaum überrascht sein, dass «Cyrano» nicht auf grosse, bombastische Gefühle setzt, sondern auf intime und rohe Momente. Hier kratzen und hauchen die Stimmen um die Wette, und wenn Peter Dinklages Cyrano niedergeschlagen seiner Liebe nachtrauert, erinnert sein rauher Bariton immer wieder an jenen von Matt Berninger. Es sind traurige und entmutigte Figuren, die allen Widrigkeiten zum Trotz versucht sind, etwas zu fühlen – und diese melancholische, schwer verliebte Grundstimmung fangen die Songs von The National wunderbar seufzend ein.
«Es sind traurige und entmutigte Figuren, die allen Widrigkeiten zum Trotz versucht sind, etwas zu fühlen – und diese melancholische, schwer verliebte Grundstimmung fangen die Songs von The National wunderbar seufzend ein.»
Es war an Joe Wright, das Potenzial der Vorlage filmisch auszuschöpfen, und dem Regisseur von «Pride & Prejudice» (2005), «Atonement» (2007) und «Anna Karenina» (2012) gelingt das bestens. «Cyrano» ist so opulent inszeniert, wie man sich das vom britischen Filmemacher gewohnt ist: mit langen Kamerafahrten, bezaubernden Kostümen und verspielten Choreografien. Doch so eindrucksvoll das alles auch ist, Wright verliert dabei nie die Nähe zu den Figuren – der Spagat zwischen seiner Liebe zu grossen Gesten und der schroffen Qualität der Musicalvorlage gelingt ihm wunderbar. Nirgends manifestiert sich das so sehr wie in jener Szene vor einer grossen Schlacht, in der drei Soldaten (darunter einer gespielt von Glen Hansard) noch ein letztes Mal ihren Liebsten schreiben: Wright inszeniert im beklemmenden Setting eines Militärzeltes eine der berührendsten Szenen des Films.
«Der Meister des Kostümfilms inszeniert das schmalbrüstige Musical aus der Feder von Erica Schmidt und den Berufsmelancholikern von The National zu einem berührenden und faszinierten Liebesdrama.»
Nach dem eher ernüchternden «The Woman in the Window» (2021) kehrt Wright mit «Cyrano» also zu alter Form zurück. Der Meister des Kostümfilms inszeniert das schmalbrüstige Musical aus der Feder von Erica Schmidt und den Berufsmelancholikern von The National zu einem berührenden und faszinierten Liebesdrama.
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Kinostart Deutschschweiz: 3.3.2022
Filmfakten: «Cyrano» / Regie: Joe Wright / Mit: Peter Dinklage, Haley Bennett, Kelvin Harrison Jr., Ben Mendelsohn, Bashir Salahuddin, Monica Dolan / USA, Kanada, Grossbritannien / 124 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © 2022 Universal Studios. All Rights Reserved.
Joe Wright schafft mit «Cyrano» ein melancholisches Musical voller Liebe und Sehnsucht, mit schwermütigen The-National-Songs und einem wunderbaren Cast. Hach.
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