Der an der diesjährigen Berlinale mit dem Hauptpreis ausgezeichnete Dokumentarfilm «Dahomey» der Französin Mati Diop ist eine grossartige philosophische Auseinandersetzung mit den Fragen, die der europäische Kolonialismus bis heute aufwirft.
Im November 2021 tat Frankreich einen historischen Schritt in der Bewältigung seiner kolonialen Vergangenheit: 26 Objekte, welche die französische Armee in den 1890er Jahren aus dem westafrikanischen Königreich Dahomey geplündert hatte, wurden feierlich aus dem Pariser Musée du Quai Branly – Jacques Chirac in ihre angestammte Heimat, die alte Königsstadt Abomey im heutigen Benin, überführt.
Doch was ist von diesem Akt der Restitution zu halten? Als wie historisch kann dieser Schritt bezeichnet werden, wenn in französischen Museen und Archiven noch hunderttausende Stücke kolonialer Raubkunst ihrer Heimkehr harren? Und inwiefern tragen symbolische Ereignisse wie die Rückkehr dieser 26 Artefakte überhaupt dazu bei, dass Länder wie Benin sich von den bis heute anhaltenden Folgen der kolonialen Ausbeutung emanzipieren können?
Es sind essenzielle Fragen wie diese, welche die französische Regisseurin Mati Diop («Atlantique») in ihrem zweiten Langfilm, der an der Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichneten, mit poetischer Fiktion aufgeladenen Dokumentation «Dahomey», aufwirft. Zur Debatte steht nicht weniger als das schwierige Verhältnis zwischen postkolonialer Theorie und Praxis – nicht aber im Sinne jener erstarkenden reaktionären Kräfte, die «Dekolonisierung» wieder zum Tabuwort machen wollen, sondern vielmehr aus philosophischer Perspektive.
Mit verblüffend einfachen Mitteln – und mit einer Laufzeit von weniger als 70 Minuten – gelingt es Diop hier, eine atemberaubende Fülle an relevanten, hochaktuellen, ausnahmslos faszinierenden Problemfeldern anzuschneiden. Beobachtende Fly-on-the-Wall-Aufnahmen im Stile Frederick Wisemans («Ex Libris: The New York Public Library», «Menus-Plaisirs – Les Troisgros») – vom Verlad der 26 Kunst- und Kultobjekte, von deren gefeierter Ankunft in Benin, vom staatlichen Empfang zu ihren Ehren, von einer kritischen Diskussionsrunde von Studierenden in Abomey – wechseln sich ab mit Szenen, in denen der haitianische Schriftsteller Makenzy Orcel die 26 Artefakte per gespenstischem Voiceover für sich sprechen lässt.
So legt «Dahomey» Schicht um Schicht an verborgener Signifikanz frei – und lädt das Publikum dazu ein, nicht nur das Schicksal der retournierten Statuen, sondern auch das Erbe des Kolonialismus im Allgemeinen vertiefter zu betrachten. Warum, fragen die Studierenden in Abomey zum Beispiel, hat sich der französische Präsident Emmanuel Macron für die Restitution dieser Kunstwerke starkgemacht? Weil sie, in Orcels Worten, Frankreichs «bestes und legitimstes Opfer» sind – ein kleiner Preis, um sich auf der Weltbühne als fortschrittlich postkolonial profilieren zu können. Doch auch Benins Präsident Patrice Talon ist ein Nutzniesser dieser von einem Studenten als PR-Stunt bezeichneten Aktion: Denn die 26 Objekte nach 130-jähriger Absenz zu Hause willkommen zu heissen, beschert ihm einen politischen Sieg, der mindestens eine Weile von den diversen innenpolitischen Krisen – darunter Armut und Hunger – ablenkt, die er noch immer nicht in den Griff bekommen hat.
«So legt ‹Dahomey› Schicht um Schicht an verborgener Signifikanz frei – und lädt das Publikum dazu ein, nicht nur das Schicksal der retournierten Statuen, sondern auch das Erbe des Kolonialismus im Allgemeinen vertiefter zu betrachten.»
Doch was bedeutet es überhaupt, zu sagen, die Artefakte seien «heimgekehrt»? Das Gebiet des modernen Benin ist nicht deckungsgleich mit dem des Königreichs Dahomey, dessen Grenzen sich im Laufe seines gut 300-jährigen Bestehens überdies immer wieder verschoben. Komplizierend hinzu kommt, dass Dahomey selber eine lokale Imperialmacht war, mitsamt kriegerischen Expansionen und Sklaverei; während das heutige Benin eine explizit nach europäischem Modell konzipierte Republik mit ihrem eigenen, von den alten Kolonialherren nachhaltig geprägten Klassensystem ist – ein Umstand, den Diop und Kamerafrau Joséphine Drouin-Viallard mit ihren Bildern von Bediensteten, die in der Peripherie von Patrice Talons pompösem Empfang um die diversen geladenen Würdenträger*innen herumwuseln, und von beninischen Helfern, die von weissen Museumsbeauftragen instruiert werden, scharfsichtig einfangen.
Gleichzeitig ist Dahomey aber auch ein identitätsstiftendes Narrativ, die Rückkehr der Artefakte ein Symbol für den noch lange nicht abgeschlossenen Prozess des postkolonialen Aufbruchs in Afrika. Eine Frau, die im Rahmen der ersten öffentlichen Ausstellung der 26 Objekte interviewt wird, ist extra aus dem fernen Haiti angereist, was auf die transatlantische und panafrikanische Strahlkraft der Restitution – und des historischen, 2022 in «The Woman King» sogar von Hollywood thematisierten Königreichs Dahomey – hindeutet. Und dass Frankreich seine Raubkunst an Benin aushändigt, ist nicht zuletzt auch ein Zeichen, dass die afrikanische Archäologie sich zunehmend vom paternalistischen Einfluss der europäischen Akademien lossagt.
«‹Dahomey› ist kein Film der grossen Thesen, sondern eine grandiose, erzählerisch raffinierte, ästhetisch anregende Bestandsaufnahme der unbequemen Fragen, welche der europäische Kolonialismus bis heute offen lässt.»
«Dahomey» ist kein Film der grossen Thesen, sondern eine grandiose, erzählerisch raffinierte, ästhetisch anregende Bestandsaufnahme der unbequemen, mitunter vielleicht sogar unauflösbaren Fragen, welche die Geschichte und die durchaus noch existierenden Gegenwartsformen des europäischen Kolonialismus bis heute offen lassen – und weiterhin aufwerfen. Die Konsequenz, die Diop daraus zieht, ist ebenso logisch wie intellektuell aufrichtig: Es gilt, zu akzeptieren, dass die Geschichte keine pfannenfertigen Lektionen erteilt, sich bereit zu zeigen, sich mit Neugier und einem kritischen Geist zu bewaffnen, und sich seriös mit ihr auseinanderzusetzen.
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Kinostart Deutschschweiz: 12.12.2024
Filmfakten: «Dahomey» / Regie: Mati Diop / Frankreich, Senegal, Benin / 68 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Filmcoopi
Mit «Dahomey» ist Mati Diop ein herausragender philosophischer Dokumentarfilm über das Erbe des Kolonialismus gelungen, der es verdient hätte, zum Standardwerk zu werden.
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