The Man with No Name. Dirty Harry. Oscarprämierter Regisseur. Der Mann, der einen leeren Stuhl angrummelte und so tat, als wäre es Barack Obama. Hollywood-Haudegen Clint Eastwood wird am 31. Mai 90 Jahre alt – zwei Filmkritiker aus zwei unterschiedlichen Generationen sprechen über ihn.
Um mit der 65-jährigen Schauspiel- und 49-jährigen Regiekarriere von Clint Eastwood fertigzuwerden, reicht eine Stimme nicht aus. Also habe ich kurzerhand meinen Vater, den Eastwood-Fan und langjährigen Luzerner Filmkritiker Urs Mattli, aus dem Ruhestand geholt, um mit ihm über das Geburtstagskind zu plaudern. Herausgekommen ist eine Mischung aus Geschichtslektion, Karriere-Durchleuchtung und Filmempfehlungsliste.
Alan: Wie bewertest du Eastwoods Karriere im Grossen und Ganzen? Als jemand, der seine Karriere von Anfang an mitverfolgt hat, kannst du das wahrscheinlich besser einschätzen als ich.
«Für mich ist er zusammen mit Martin Scorsese der grösste noch aktive amerikanische Auteur – und zugleich ein faszinierendes Bindeglied zwischen zwei Hollywoods.»
Urs: Für mich ist er zusammen mit Martin Scorsese der grösste noch aktive amerikanische Auteur – und zugleich ein faszinierendes Bindeglied zwischen zwei Hollywoods. Mit seinen wenigen Takes und seiner Tendenz, unter dem Budget zu bleiben, wäre er in der alten Traumfabrik einer der schnörkellosen «Hollywood Professionals» in der Tradition von Henry Hathaway («True Grit») oder Michael Curtiz («Casablanca») gewesen. Als Regisseur ist er aber auch ein Vertreter der New-Hollywood-Bewegung der späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahre, in welcher der Regisseur als zentrale kreative Kraft des Kinos gefeiert wurde.
Alan: Er ist aber auch ein untypischer Auteur. Immerhin hat er meines Wissens nach in seinem Leben kein einziges Drehbuch geschrieben.
Urs: Stimmt. Kreative Kontrolle übt er anderweitig aus: Er sucht sich seine Themen aus – Jazz an vorderster Front, aber auch Outsider-Romantik und das amerikanische Individuum. Er hat mit Malpaso Productions seine eigene Produktionsfirma gegründet. Er arbeitet als Filmkomponist. So wurde er zum Patron seiner eigenen «Stock Company» von vertrauten Filmschaffenden, die über die Jahre zu einem eingespielten Kollektiv im Stile John Fords, des ultimativen «Hollywood Professionals», herangewachsen ist.
Alan: Und gleichzeitig ist er sich auch nicht zu schade, in «Every Which Way But Loose» (1978) und «Any Which Way You Can» (1980) mit einem Orang-Utan herumzublödeln.
Urs: Auch das ist Teil der Stock Company: Spass am Unfug. Community-Spirit. Beim ersten Orang-Utan-Film führte sein ehemaliger Assistent James Fargo Regie, beim zweiten sein Ex-Stunt-Double Buddy Van Horn.
«Ich glaube, das erste Mal hörte ich seinen Namen in ‹Back to the Future Part III›, als Marty McFly sich im Wilden Westen Clint Eastwood nennt.»
Alan: Wie bist du das erste Mal auf Eastwood aufmerksam geworden? Ich persönlich kannte ihn als Synonym für den Western, bevor ich ihn als reale Person wahrnahm: Ich glaube, das erste Mal hörte ich seinen Namen in «Back to the Future Part III» (1990), als Marty McFly sich im Wilden Westen Clint Eastwood nennt.
Urs: Ich war schon als Teenager grosser Westernfan. John Wayne war die Genre-Ikone, aber auch Spaghettiwestern waren Pflicht, und die Filme von Sergio Leone mit Eastwood in der Hauptrolle – «A Fistful of Dollars» (1964), «For a Few Dollars More» (1965), «The Good, the Bad and the Ugly» (1966) – standen bei mir schon bald ganz oben. Eastwood hatte einfach eine enorme Leinwandpräsenz, obwohl er kaum je das Gesicht verzog und die ganze Zeit nur flüsterte. Die Antithese zum Method-Acting, das mir im Western unpassend schien.
«Eastwood hatte einfach eine enorme Leinwandpräsenz, obwohl er kaum je das Gesicht verzog und die ganze Zeit nur flüsterte.»
Alan: Bei mir ist das Kennenlernen etwas chaotischer verlaufen. Dank dir bin ich ja relativ früh mit dem oscargekrönten «Meisterregisseur» Eastwood in Berührung gekommen: Als Teenager habe ich «Unforgiven» (1992), «Mystic River» (2003) und «Million Dollar Baby» (2004) gesehen, bevor mir je ein Leone-Western untergekommen ist. Wie hast du 1971 Eastwoods Wechsel auf den Regiestuhl miterlebt?
Urs: Das erschien mir ziemlich nahtlos. Sein Regiedebüt «Play Misty for Me» war ein Psychothriller im Stile von Don Siegel, der Eastwood, parallel zu Leone, mit «Coogan’s Bluff» (1968), «The Beguiled» (1971) und «Dirty Harry» (1971) zum Star gemacht hatte. Und da Siegel auch prompt einen Gastauftritt hatte, dachte ich, der hätte ihn schon zurechtgewiesen, wenn er etwas falsch gemacht hätte. Eastwoods inszenatorisches Talent war für mich jedoch schon dort offenkundig – ein Siegel-Thriller eben. Sein nächster Film – die Leone-Hommage «High Plains Drifter» (1973) – gefiel mir zwar nicht ganz so gut, aber das Gefühl für den Western war da. Drei Jahre später drehte er mit «The Outlaw Josey Wales», einem weiteren Spätwestern, sein erstes Meisterwerk.
«Spannend ist aber auch, wie er sich zwischen ‹Unforgiven› und ‹Gran Torino› mit dieser Figur neu auseinandersetzt: Hier spielt er den alternden (Anti-)Helden und differenziertere, zum Teil gebrochene Figuren.»
Alan: Hast du eine Lieblingsphase in seinem Schaffen?
Urs: Als Schauspieler mag ich ihn in seiner Frühphase, zwischen Leone und «Josey Wales». Dort wird mit dem «Man with No Name» und Dirty Harry eine Ikone geboren und in verschiedenen Settings ausprobiert. Spannend ist aber auch, wie er sich zwischen «Unforgiven» und «Gran Torino» (2008) mit dieser Figur neu auseinandersetzt: Hier spielt er den alternden (Anti-)Helden und differenziertere, zum Teil gebrochene Figuren – sogar in qualitativ vergleichsweise unauffälligen Filmen wie den Politthrillern «Absolute Power» (1997) und Wolfgang Petersens «In the Line of Fire» (1993).
Alan: Ich muss aber auch sagen, dass ich ihn in den Orang-Utan-Filmen ganz witzig fand. Über diese Seite von Eastwood wird nicht viel gesprochen, aber ich hätte gerne mehr Komödien mit ihm gesehen. Auch der Mann ohne Namen hat einen wunderbar trockenen Sinn für Humor.
Urs: Bei seinen Regiearbeiten fällt es mir auch leichter, mich festzulegen: Ende Achtziger- bis Ende 2000er Jahre – hier treiben ihn vor und hinter der Kamera die gleichen Gedanken um, während seine filmemacherische Effizienz ihren Höhepunkt erreicht. Zudem bieten die Filme eine enorme Genre-Vielfalt, von Drama («The Bridges of Madison County») über Western («Unforgiven») bis hin zum Buddy-Abenteuer im Weltraum («Space Cowboys»). Mich begeistern hier insbesondere auch die Filme, in denen er nicht mitspielt: das Charlie–Parker-Biopic «Bird» (1988) etwa, oder seine beiden klarsichtigen Porträts der Schlacht von Iwo Jima, «Flags of Our Fathers» (2006) und «Letters from Iwo Jima» (2006).
«Mich begeistern hier vor allem die Filme, in denen er nicht mitspielt: das Charlie-Parker-Biopic ‹Bird› etwa, oder seine beiden klarsichtigen Porträts der Schlacht von Iwo Jima, ‹Flags of Our Fathers› und ‹Letters from Iwo Jima›.»
Alan: Da sind wir uns einig. Praktisch alle meine Lieblingsfilme von ihm fallen in diesen Zeitraum – vielleicht genau weil er dort am eigenen Haudegen-Image, das er sich mit Dirty Harry und den Leone-Western erarbeitet hatte, sägte. Unter diesem Gesichtspunkt stechen für mich «Unforgiven», «Flags» und «Letters» heraus. Ersterer führt die alte Westernparanoia – dass der logische Endpunkt des Genres die «Zivilisierung» und damit der Untergang der Heldenfiguren ist – an ihr konsequentes Ende: Die Zeit der Rächer ist vorbei, und wer nicht tot ist, hat keinen Platz mehr in der Welt. Sam Peckinpah lässt grüssen. Und in den Zweitweltkriegsfilmen wird dieser Ansatz über den Western hinausgedacht: Amerikanisches Heldentum ist untrennbar mit Gewalt und Tod verbunden – und das Land verteilt lieber Medaillen als institutionell dafür zu sorgen, dass es den Menschen besser geht. Und nicht zu vergessen: Die auf der anderen Seite des Gewehrs sind auch Menschen.
Urs: Dann ist für uns beide «Gran Torino» ein Bruch. Warum?
Alan: Ich finde den Film zwar herausragend, aber er scheint die Subversion wieder umzukehren. Darin wird durchaus ernsthaft davon geträumt, eine konservativ-amerikanische Vorstellung von Heldentum an eine neue, multikulturelle Generation weiterzugeben. Dass Eastwood nur wenige Jahre später beim republikanischen Parteitag einen leeren Stuhl stellvertretend für Barack Obama anpöbelt, kommt wohl nicht von ungefähr. Wie bewertest du seine Karriere seither?
Urs: Im Grunde dominieren weiterhin seine persönlichen Projekte und seine facettenreichen Interessen – Geschichte, Sport, Helden, Musik. Thematisch schwimmt er damit eher gegen den kommerziellen Strom. Zum Teil sind ganz ansehnliche Werke darunter, besonders «Invictus» (2009), «J. Edgar» (2011), «American Sniper» (2014) und – in Sachen Eastwood als Schauspieler – das Baseball-Drama «Trouble with the Curve» (2012) von Robert Lorenz. Aber ein rundum gelungener Film war schon länger nicht mehr dabei – ich wüsste gerne, warum. Trotzdem: Gelangweilt hat mich noch keiner.
«Für mich stehen die letzten acht Jahre halt etwas unter dem Schatten von Eastwoods Stuhl-Aktion. Nicht, weil ich denken würde, er sei ein Trump-Republikaner oder etwas dergleichen. Aber gleichzeitig hinterfrage ich mich bei einem Film wie ‹American Sniper› dennoch, wenn ich ihn als Plädoyer für die menschliche Behandlung von traumatisierten Veteranen lese.»
Alan: Für mich stehen die letzten acht Jahre halt etwas unter dem Schatten von Eastwoods Stuhl-Aktion. Nicht, weil ich denken würde, er sei ein Trump-Republikaner oder etwas dergleichen. Aber gleichzeitig hinterfrage ich mich bei einem Film wie «American Sniper» dennoch, wenn ich ihn als Plädoyer für die menschliche Behandlung von traumatisierten Veteranen lese. Wie kalkuliert ist die Tatsache, dass dieses Plädoyer am Beispiel eines Kriegsverbrechers gehalten wird? Worauf zielt Eastwood in «The Mule» (2018) ab, wenn er die Angst eines Mexikaners vor einer Polizeikontrolle in einem allzu flapsigen Tonfall inszeniert? Ich bin gespannt, wie das in «Richard Jewell» (2019), seinem neuesten Film, gehandhabt wird.
Urs: Er war in den Achtzigerjahren ja republikanischer Bürgermeister einer kalifornischen Ortschaft. Politik ist für ihn nichts Neues.
«Das ist für mich wohl die grösste Crux mit seiner Filmografie. Subversion und Zelebrierung eines reaktionären Weltbildes scheinen sich letztlich irgendwie die Waage zu halten, wie schon in ‹Dirty Harry›.»
Alan: Das ist für mich wohl die grösste Crux mit seiner Filmografie. Subversion und Zelebrierung eines reaktionären Weltbildes scheinen sich letztlich irgendwie die Waage zu halten, wie schon in «Dirty Harry»: Ist Harry ein rassistisch angehauchter Nixon-Backlash gegen das Civil Rights Movement und die demografischen Veränderungen in den USA oder ein Kommentar auf den Polizist gewordenen Western-Outlaw? Oder etwa beides? Ich finde diesen Konflikt aber auch faszinierend. Das ist wohl mit ein Grund, warum ich Eastwood weiterhin treu bleibe – auch wenn mich Filme wie «Hereafter» (2010), «J. Edgar» und «Jersey Boys» (2014) kaum mitreissen konnten. Sich mit ihm und seinen Widersprüchen auseinanderzusetzen, ist immer spannend.
Urs: Das haargenau gleiche politische Dilemma gibt es bei John Ford. Fast schon Hollywood-Tradition.
Alan: Wenn du jetzt fünf Momente aus Eastwoods Gesamtwerk herausgreifen müsstest, wofür würdest du dich entscheiden?
«Die berühmte Magnum-Szene in ‹Dirty Harry› – ‹Do I feel lucky?› Unvergesslich.»
Urs: Die berühmte Magnum-Szene in «Dirty Harry» – «Do I feel lucky?» Unvergesslich. Seine ganze Performance in «Tightrope» (1984), wo sich seine Standard-Figur der düsteren Faszination des Bösen und Abseitigen stellen muss. Die Szenen in «Josey Wales», wo er sich in der Titelrolle mit dem grossen First-Nations-Schauspieler Chief Dan George austauscht. Die stille Traurigkeit der unmöglichen Liebe am Ende von «The Bridges of Madison County». Und die Momente in «Gran Torino», in denen er mit seiner ebenso steinalten Hündin auf der Veranda um die Wette grummelt.
Alan: Und jetzt noch ganz undifferenziert und ohne Nuancen: Was ist deine Eastwood-Top-Fünf?
Urs: Als Schauspieler: «The Good, the Bad and the Ugly», «Dirty Harry», «Escape from Alcatraz» (1979), «Unforgiven», «Gran Torino». Als Regisseur: «Unforgiven», «The Bridges of Madison County», «Mystic River», «Million Dollar Baby», «Gran Torino». Und deine?
Alan: Das sieht bei mir relativ ähnlich aus. Als Schauspieler: «The Good, the Bad and the Ugly», «Gran Torino, «The Outlaw Josey Wales», «Unforgiven», «Coogan’s Bluff». Als Regisseur: «Letters from Iwo Jima», «Gran Torino», «Flags of Our Fathers», «Unforgiven», «A Perfect World» (1993). Und da bleiben noch diverse andere lohnenswerte Filme unerwähnt.
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«Richard Jewell», der neue Film von Clint Eastwood, kommt am 8. Juni in die Deutschschweizer Kinos.
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Das Titelbild entstammt aus dem Making of «Richard Jewell». Quelle: © 2020 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved.
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