Auf Jan Gassmanns „Europe, She Loves“ steht das Label Dokumentarfilm. Darunter versteckt sich ein Quasi-Spielfilm über das Leben an der europäischen Peripherie.
Wenn nach dem Film der Abspann zu den Klängen von Kate Tempests „Europe Is Lost“ über die Leinwand rollt, dürfte sich bei so manchem Zuschauer vor allem eine Frage aufdrängen: Wenn das wirklich eine Dokumentation war, warum haben diese Leute so viel Sex? Auf ihrer langen Reise durch ein Europa in der Sinn- und Identitätskrise haben Gassmann und seine Crew in Tallinn, Thessaloniki, Dublin und Sevilla Halt gemacht, um dort den Alltag von vier jungen Paaren zu porträtieren. Die Bilder ähneln sich: viel Hausrat, wenig Platz, vage Zukunftspläne – aber, wie Kate Tempest so schön rappt, „sex is still good when you get it“. Und den bekommt man hier zur Genüge zu sehen – so oft und so freizügig, dass es übertrieben wäre, von schwammigen Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktion zu sprechen. Vielmehr sucht man 100 Minuten lang nach dem Beginn der Non-Fiction.
Letztlich ist es aber eigentlich egal, was „wahr“ (wann sind Filme jemals wahr?) und was gespielt ist in „Europe, She Loves“. Wie schon im Omnibusprojekt „Heimatland“, bei dem Gassmann federführend war, geht es hier weniger um die einzelnen Schicksale als um das alles durchdringende Gefühl, das durch diese vermittelt werden soll. Klar, wir wünschen den Ex-Junkies Siobhan und Terry eine bessere Zukunft; wir wollen auch nicht, dass Penny und Niko sich für immer trennen, wenn Erstere nach Genua zieht; wir würden Caro sowohl das Masterstudium als auch einen reiferen Freund gönnen; wir freuen uns über die Fortschritte, die Veronika und Harri in Sachen Familienleben machen. Doch schlussendlich ist Gassmanns Film eine europäische Variation der Katastrophe, die in „Heimatland“ die Schweiz heimsucht: Ein Sturm zieht auf in Europa.
Das zeigen nicht nur die eingeschobenen Bilder von bröckelnden Hausfassaden, faschistischen Graffitis und der gekenterten Costa Concordia, sondern auch die omnipräsenten Fernseher und Radios im Leben der Protagonisten. In Griechenland verüben Anhänger der Neonazi-Partei Goldene Morgenröte politisch motivierte Verbrechen. Man hört von der Apathie der Iren gegenüber ihrer eigenen dahinsiechenden Wirtschaft. Linksparteien verlieren an Boden. Das Problem im Zeitalter des wieder erstarkenden Nationalismus sei, so eine Kommentatorin, dass es im vereinten Europa nicht genug überzeugte Europäer gebe.
Das alles passiert zwischen den Zeilen in „Europe, She Loves“. Was sich auf den Zeilen selbst abspielt, ist ansprechend, mitunter auch anrührend, kann sich letztendlich aber kaum profilieren. Zu repetitiv sind die Strukturen – Sex, Streit, Gespräch, Sex; zu sehr gleichen sich die Geschichten. Der Film hat das Herz am rechten Fleck, doch er bekundet allzu offensichtlich Schwierigkeiten damit, seine klugen Gedanken überzeugend zu inszenieren.
Kinostart Deutschschweiz: 29.9.2016 / Regie: Jan Gassmann
Bildquelle: Outside the Box
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