Der siebenfache César-Gewinner «Illusions perdues» rührt Geschichte mit der ganz grossen Kelle an: Basierend auf dem gleichnamigen Romandreiteiler aus Honoré de Balzacs gigantischem Erzählzyklus «La Comédie humaine», entführt Regisseur Xavier Giannoli sein Publikum zweieinhalb Stunden lang in die schrille, schwindelerregende Welt des Pariser Journalismus der 1820er Jahre.
Kunst, insbesondere das geschriebene Wort, ist ein holdes Gut, ein heiliges Gefäss, in das die schaffende Person das Innerste ihrer Seele ausschüttet. Wer ein gutes Gedicht oder einen elegant konstruierten Roman liest, kann durch die schiere geistige Bereicherung zu einem besseren Menschen heranreifen. Mit diesen hehren Romantik-Idealen im Gepäck reist der junge Poet Lucien Chardon (Benjamin Voisin) um 1820 aus dem provinziellen Angoulême ins florierende Paris, um sich im kulturellen Zentrum Europas einen Namen als Schriftsteller zu machen.
Kaum angekommen, erwartet ihn jedoch ein rüdes Erwachen: Trotz einigermassen prominenter Fürsprecher*innen, darunter die aufstiegshungrigen Kleinadligen Louise de Bargeton (Cécile de France) und den Baron du Châtelet (André Marcon), stellt sich Paris als weitaus weniger kunstfreundlich heraus, als Lucien sich das vorstellte. Nach dem Ende von Revolution, Terreur und napoleonischer Herrschaft mag in der Metropole wieder der dekadente Adel regieren, doch die wahre kulturelle Macht liegt, ganz im Sinne des aufstrebenden Kapitalismus, in der Hand der meinungsmachenden Presse mit ihrer profitorientierten Streitlust: Liberale Blätter hetzen gegen monarchietreue Autor*innen, royalistische gegen radikale – ganz gleichgültig, ob das rezensierte Werk überhaupt ganz gelesen wurde –, überschwängliche und vernichtende Rezensionen werden an die Meistbietenden verscherbelt, ganze Karrieren von bissigen Aphorismen zunichtegemacht. Am Theater haben sich professionelle Publikumsmanipulatoren breitgemacht, die gegen Bezahlung für Applaus oder Buhrufe sorgen. Erfolg hat, wer die richtigen Kontakte pflegt.
Weil der Einfluss von Louise und du Châtelet in Paris aber spürbar geringer ist als noch in Angoulême, gerät Lucien ziemlich schnell in finanzielle Schwierigkeiten und folgt dem Sirenengesag der einträglichen neuen Pressefreiheit. Unter dem adligen Namen de Rubempré, den er sich illegal aneignet, heuert er beim skrupellosen Redakteur Étienne Lousteau (Vincent Lacoste) an – zunächst noch, um den mächtigen Verleger Dauriat (Gérard Depardieu) dazu zu bringen, seinen schmalen Gedichtband zu veröffentlichen; doch bald schon findet er Gefallen an der scheinbar unbegrenzten Macht seiner unbarmherzigen Texte und beginnt, unvorsichtig zu werden.
«In seinen besten Sequenzen ist ‹Illusions perdues› gar alles, was den historischen Kostümfilm zu einem so spannenden Genre macht: lebhaft, rasant, ohne ehrfürchtige Distanziertheit, interessiert an den gesellschaftlichen Beweggründen und Konsequenzen von historischen Entwicklungen.»
Es ist ein faszinierendes Milieu, das Regisseur und Autor Xavier Giannoli («Quand j’étais chanteur», «Marguerite») hier in seiner ganzen volatilen Pracht auf die Leinwand bringt. In seinen besten Sequenzen ist «Illusions perdues» gar alles, was den historischen Kostümfilm zu einem so spannenden Genre macht: lebhaft, rasant, ohne ehrfürchtige Distanziertheit, interessiert an den gesellschaftlichen Beweggründen und Konsequenzen von historischen Entwicklungen. Besonders Giannolis Auseinandersetzung mit der Pariser Presse – wenn er und Co-Autor Jacques Fieschi nicht gerade allzu nachdrücklich auf die offensichtlichen Parallelen zu «Fake News» und Konsorten verweisen – besticht durch ihre atemlose, überbordend hektisch gefilmte, dennoch glasklar erzählte Veranschaulichung davon, wie ein Journalismus, der sich zuallererst an Angebot und Nachfrage orientiert, antidemokratischen Bestrebungen Tür und Tor öffnet.
Überhaupt begeistert «Illusions perdues» vor allem als panoptisches Porträt einer Weltstadt, und damit einer ganzen Gesellschaft, die sich mühselig über die Schwelle zwischen Absolutismus und aufgeklärter Demokratie zu hieven versucht – derweil Industrialisierung und die neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten bereits das Fundament für die nächste Zwei-Klassen-Gesellschaft gelegt haben. Auch Giannoli selbst scheint eine besondere Affinität zu diesem Aspekt von Balzacs ursprünglicher Erzählung zu haben, denn seine Inszenierung ist nirgendwo so fantasievoll, Christophe Beaucarnes Kameraarbeit so raffiniert, Bruno Vias und Riton Dupire-Cléments Ausstattung so einfalls- und detailreich – Stichwort: Enten – wie in jenen Sequenzen, in denen er das Publikum durch die unzähligen Winkel der Pariser Kulturszene führt.
Das macht sich jeweils dann bemerkbar, wenn die zwischenmenschlichen Höhen und Tiefen von Luciens Reise ausgelotet werden sollen. Zugegeben, Benjamin Voisin ist kein sonderlich einnehmender Hauptdarsteller – gerade in den Szenen, in denen er den bedeutend charismatischeren Nebendarstellern Vincent Lacoste, Gérard Depardieu und Xavier Dolan (als Erzähler Raoul Nathan) gegenübersteht –, doch auch Drehbuch und Regie scheinen in diesen Momenten ein wenig die Ideen auszugehen: Luciens Affäre mit Louise, seine stürmische Liebe mit der Boulevard-Schauspielerin Coralie (sehr gut: Salomé Dewaels), sein unscharf umrissenes Fernduell mit Louises gerissenerer Cousine, der Marquise d’Espard (Jeanne Balibar), die diversen adligen Intrigen am Rande – das alles wird stilvoll und visuell ansprechend inszeniert, lässt aber die Verve vermissen, mit der Giannoli anderswo agiert.
«Wo also die Geschichte von Lucien dem Journalisten fast schon einem kleinen Meisterwerk gleichkommt, ist jene von Lucien dem Liebhaber und Möchtegern-Adligen ein solider, aber auch etwas allzu gewöhnlicher Kostümfilm.»
Wo also die Geschichte von Lucien dem Journalisten fast schon einem kleinen Meisterwerk gleichkommt, ist jene von Lucien dem Liebhaber und Möchtegern-Adligen ein solider, aber auch etwas allzu gewöhnlicher Kostümfilm, wie man ihn im französischen Kino mit verlässlicher Regelmässigkeit zu sehen bekommt. Insofern ist das Enttäuschendste an «Illusions perdues» nicht etwa unzulängliches Filmhandwerk, sondern der Umstand, dass die herausragenden Elemente des Films den kompetenten Rest leider ein wenig unspektakulär wirken lassen.
–––
Kinostart Deutschschweiz: 14.7.2022
Filmfakten: «Illusions perdues» / Regie: Xavier Giannoli / Mit: Benjamin Voisin, Vincent Lacoste, Xavier Dolan, Salomé Dewaels, Cécile de France, Gérard Depardieu, André Marcon, Jeanne Balibar / Frankreich / 149 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Pathé Films
Xavier Giannolis «Illusions perdues» ist streckenweise grossartiges historisches Kino – vor allem, wenn er von den Anfängen der modernen Pariser Presse erzählt. Der Rest ist leider «nur» solide.
No Comments