Bob Dylan erhält mit «A Complete Unknown» ein konventionelles Biopic mit Starbesetzung. Abseits der gängigen Klischees gelingt es Regisseur James Mangold aber sehr gut, seinem Protagonisten gerecht zu werden – und zwar indem er sich auf die Musik konzentriert.
Niemand ist sicher vor dem Hollywood-Biopic, nicht einmal Jahrhundertmusiker Bob Dylan. Dabei kam der notorisch widersprüchliche, künstlerisch und privat stets im Wandel begriffene Singer-Songwriter in den 2000er Jahren, als Künstlerbiografien wie «Ray» (2004), «Walk the Line» (2005) und «Capote» (2005) die Kinokassen eroberten und reihenweise Preise einsackten, noch um die konventionelle Behandlung herum: Anstelle eines erzählerisch genormten Films, der beflissen wichtige Karrierestationen abhakt und sämtliche Kunstwerke auf biografische Details zurückführt, bekam Dylan 2007 von Regisseur Todd Haynes («Carol», «May December») das Kaleidoskop «I’m Not There» gewidmet, in dem das Enigma seines Lebens und Werks anhand von sechs teils fiktionalisierten, teils gänzlich fiktiven Avataren abgehandelt wurde.
Doch in der zweiten Biopic-Welle dieses Jahrhunderts, im Zuge von Filmen wie «Bohemian Rhapsody» (2018), «Rocketman» (2019) und «Elvis» (2022), gibt es kein Entrinnen mehr. Mit dem «Walk the Line»-Macher James Mangold auf dem Regiestuhl, Elijah Walds poppigem Hintergrundbericht «Dylan Goes Electric!» (2015) als Quellenmaterial und Shootingstar Timothée Chalamet («Call Me by Your Name», «Dune») in der Hauptrolle schickt sich «A Complete Unknown» an, die frühen Jahre des Literaturnobelpreisträgers 2016 mundgerecht und publikumsfreundlich aufzubereiten.

Timothée Chalamet in «A Complete Unknown» / © Searchlight Pictures. All Rights Reserved.
Die Eckdaten sind – jedenfalls für jene, die mit Dylans Karriere einigermassen vertraut sind – wenig überraschend. Der aus Minnesota stammende Robert Allen Zimmerman, genannt Bob Dylan, kommt 1961 kaum 20-jährig in New York an, um sein schwer krankes Idol, die Dreissigerjahre-Folklegende Woody Guthrie (Scoot McNairy), im Krankenhaus zu besuchen. Dort lernt er den linkspolitisch aktiven, in der florierenden Folk-Revival-Szene von New Yorks Greenwich Village bestens vernetzten Banjospieler und Folk-Impresario Pete Seeger (Edward Norton) kennen. Unter dessen Fittichen avanciert Dylan rasch zum Village-Wunderkind: Seine markante Blues-Stimme und wortgewandten, poetischen Liedtexte finden in den einschlägigen Cafés und Bars grossen Anklang.
Das entgeht auch dem Manager Albert Grossman (Dan Fogler) nicht: Nachdem er mit seinen Versuchen, den bereits etablierten Folk-Publikumsliebling Joan Baez (Monica Barbaro) unter Vertrag zu nehmen, gescheitert ist, schnappt er sich stattdessen Dylan und lässt ihn beim Mega-Label Columbia ein erstes Coveralbum aufnehmen – derweil Baez wiederum ein paar von Dylans Eigenkompositionen einspielt und ihn damit auch ausserhalb des Greenwich Village bekannt macht. Und dann ist da auch noch Sylvie Russo (Elle Fanning), eine nur leicht verfremdete Version der echten Suze Rotolo, die sich in den verschlossenen Sonderling mit dem Hang zur Fantasterei und der Furcht vor der Schubladisierung verliebt und ihn in ihren Kampf für soziale Gerechtigkeit einführt.
«Diese Prämisse führt erwartungsgemäss zu einigen Klischees, die sich spätestens in den letzten 25 Jahren im Biopic-Genre festgesetzt haben.»
Diese Prämisse führt erwartungsgemäss zu einigen Klischees, die sich spätestens in den letzten 25 Jahren im Biopic-Genre festgesetzt haben. Dylan und Sylvie führen hitzige, aber holprig geschriebene Diskussionen über das, was der plötzliche Ruhm aus ihm zu machen scheint – oder endlich zum Vorschein kommen lässt. Dylan und Baez, in Unterwäsche gekleidet, umgeben von Zigarettenstummeln und Papieren voller hingekritzelter Song-Lyrics, debattieren über ihre politische Verantwortung als Künstler*innen.
Immer wieder werden populäre Anekdoten aus dem Dylan-Legendarium erwähnt – zum Beispiel die kuriosen Umstände, unter denen Sessionmusiker Al Kooper (Charlie Tahan) bei der legendären Aufnahme von «Like a Rolling Stone» zum Orgelspielen verdonnert wurde –, obwohl sie im grösseren erzählerischen Zusammenhang weder relevant noch sonderlich sinnträchtig sind. Augenzwinkernd wird auf spätere, im Film nicht abgebildete Ereignisse in Dylans Vita angespielt, etwa wenn Pete Seeger den jungen Stürmer und Dränger mahnt, er solle mit seinem Motorrad doch bitte vorsichtig fahren – sicher im Wissen, dass das geneigte Publikum sofort an den einschneidenden, beinahe tödlichen Unfall denken wird, den Dylan im Sommer 1966 bauen sollte.

Monica Barbaro in «A Complete Unknown» / © Searchlight Pictures. All Rights Reserved.
Doch diesen oft ziemlich generisch wirkenden Biopic-Konventionen sind in Dylans Fall klare Grenzen gesetzt. In dieser Karriere existiert, zumindest zum Zeitpunkt, zu dem «A Complete Unknown» spielt, kein klar definierter Antagonist (ausser vielleicht Bobbys Ego), kein katastrophaler Ikarussturz. Dank seines kommerziellen Erfolgs genoss Dylan selbst während seiner Abwendung vom Folk und seiner Zuwendung zum Rock den Rückhalt der Columbia-Bosse. In seiner Entourage gab es im Vergleich zu der eines Elvis Presley weder einen ausbeuterischen Manager à la «Colonel» Tom Parker noch einen Aufputschmittel verschreibenden Quacksalber wie George «Dr. Nick» Nichopoulos. Zwar mag Dylan zwischen 1961 und 1965 alles andere als ein Abstinenzler gewesen sein, doch eine alles aufs Spiel setzende Drogensucht – ein zentraler Konflikt in «Ray», «Walk the Line» und «Rocketman» – lässt sich in einer an adäquater historischer Akkuratesse interessierten Geschichte auch nicht unterbringen.
Ja, Dylan tut dem boulevardesk nach Tragik gierenden Biopic-Genre nicht einmal den Gefallen, früh verstorben zu sein oder sein Potenzial anderweitig «verschenkt» zu haben. Der heute 83-jährige Grammy- und Oscargewinner, Nobel- und Pulitzer-Preisträger sowie Presidential-Medal-of-Freedom-Empfänger blickt auf eine einzigartige Karriere voller absatzstarker, kritisch gefeierter Alben, ausverkaufter Konzerttouren und überwiegend geschickter (musik-)geschäftlicher Schachzüge zurück.
«James Mangold und Jay Cocks erzählen die Geschichte des jungen Bob Dylan mit dem Verständnis, dass die Kunst allermeistens interessanter und vielschichtiger ist als die kunstschaffende Person selber.»
Diesem dramaturgischen «Problemen» begegnen Mangold und sein Drehbuchpartner Jay Cocks – seines Zeichens Filmkritiker, früher Dylan-Interviewer und Autor von Meisterstücken wie «The Age of Innocence» (1993), «Strange Days» (1995) und «Silence» (2016) – mit einer cleveren Massnahme, die eine der fundamentalen Schwächen des Genres wenigstens teilweise aushebelt: Sie erzählen die Geschichte des jungen Bob Dylan mit dem Verständnis, dass die Kunst allermeistens interessanter und vielschichtiger ist als die kunstschaffende Person selber.

Elle Fanning und Timothée Chalamet in «A Complete Unknown» / © Searchlight Pictures. All Rights Reserved.
In einem ihrer ersten Streite wirft Sylvie ihrem pathologisch flatterhaften Freund vor, er würde ihr nie etwas von sich erzählen – abgesehen von der offensichtlich zusammengeflunkerten Mär, er hätte einst beim Jahrmarkt gearbeitet und sich das Gitarrenspielen von einem singenden Cowboy namens «Wigglefoot» beibringen lassen. «You wrote a five-minute song about some girl from Minneapolis», sagt Sylvie und meint damit wohl das Liebeslied «Girl from the North Country». «Who was that? What happened?»
Es sind solche Fragen, die Filme wie «A Complete Unknown» in der Regel zu beantworten versuchen, im Glauben, das Publikum sehne sich, wie Sylvie, nach lückenloser Aufklärung und autoritativ gezogenen Verbindungslinien zwischen Biografie und Werk. Diese Einstellung ist es, die in der Vergangenheit zu so desaströsen Biopic-Momenten geführt hat wie jenem in «Ray», in dem Ray Charles inmitten einer Auseinandersetzung mit seiner ihn zur Wohnung hinauswerfenden Partnerin ans Klavier setzt, um spontan den Gassenhauer «Hit the Road Jack» zu schreiben.
«‹A Complete Unknown› zeigt einen Protagonisten, über dessen tiefstes Innenleben die Zuschauer*innen ebenso wenig erfahren wie seine Zeitgenoss*innen.»
Mangold und Cocks hingegen lassen die Frage nach der «wahren» Inspiration für «Girl from the North Country» – und praktisch jeden anderen Song – unbeantwortet. Dylans Kompositionen nach konkreten Referenzen auf sein eigenes Leben abzuklopfen, ist ohnehin vergebliche Liebesmüh, einerseits wegen ihrer oft kryptisch-poetischen Texte, andererseits, weil deren Autor ein notorischer Lügner – oder, grosszügiger formuliert, ein leidenschaftlicher Geschichtsklitterer – ist, dessen Aussagen über sein Privatleben man besser nicht auf die Goldwaage legt.
Stattdessen zeigt «A Complete Unknown» einen Protagonisten, über dessen tiefstes Innenleben die Zuschauer*innen ebenso wenig erfahren wie seine Zeitgenoss*innen. Timothée Chalamets Dylan ist vielmehr eine Art Parasit, ein Schwamm, der unzählige Einflüsse und Personas in sich aufnimmt – Woody Guthries Wirtschaftskrisen-Mythen, das Hollywood-Melodrama, den Singer-Songwriter-Archetyp des Folk-Revivals, Pete Seegers spitzbübische Bühnenpräsenz, Joan Baez‘ Traditionsbewusstsein, Sylvies politische Rhetorik, die Blues-Riffs eines afroamerikanischen Gitarristen (Big Bill Morganfield), die Radiohits von Little Richard und den Kinks, den am Strassenrand auftretenden «Tambourine Man» –, sich diese aneignet, weiterspinnt, neu auslegt und schliesslich zu originellen lyrischen Monumenten wie «Blowin‘ in the Wind», «A Hard Rain’s a-Gonna Fall», «The Times They Are a-Changin’», «It’s All Over Now, Baby Blue» und «Like a Rolling Stone» verarbeitet.

Timothée Chalamet und Monica Barbaro in «A Complete Unknown» / © Searchlight Pictures. All Rights Reserved.
Dieses nicht von der Hand zu weisende Genie steckt in der Interpretation von Mangold und Cocks in einem undurchschaubaren, unnahbaren, fest von seinem eigenen Können überzeugten und damit nicht unbedingt sympathischen Opportunisten, der es wahrscheinlich nicht ironisch meint, wenn er sich selber als Gott bezeichnet, als lässig desinteressierter Trittbrettfahrer des idealistischen Sechzigerjahre-Folk Berühmtheit erlangt und sich unbekümmert wieder davon lossagt, sobald seine musikalischen Interessen in eine andere Richtung ausschlagen.
«Aus all diesen Widersprüchlichkeiten und Komplexitäten zieht ‹A Complete Unknown› die fast schon logische Konsequenz, dass hier nicht der kratzbürstige Dylan, sondern die Musik als emotionales Zentrum fungiert.»
Aus all diesen Widersprüchlichkeiten und Komplexitäten zieht «A Complete Unknown» die fast schon logische Konsequenz, dass hier nicht der kratzbürstige Dylan, sondern die Musik – sei es nun seine eigene oder jene, die ihn in Mangolds nostalgischem Greenwich Village umgibt – als emotionales Zentrum fungiert. Es vergehen kaum fünf Minuten in diesem fast zweieinhalbstündigen Film, ohne dass irgendwo ein Lied angestimmt wird; und den meisten Songs wird genug Platz eingeräumt, dass Chalamet, Monica Barbaro, Edward Norton oder Boyd Holbrook («The Sandman», «The Bikeriders») als Johnny Cash eine oder zwei Strophen – oder sogar das ganze Stück – zum Besten geben können, bevor die Szene gewechselt wird.
Diese Geduld, dieses Vertrauen in die Macht der Musik ist eine genreuntypische Wohltat. Nicht nur minimiert diese Verlagerung der erzählerischen Aufmerksamkeit von der Behind-the-Scenes-Gerüchteküche auf die Bühne die Zahl der Szenen, in denen sich die ansonsten stark aufspielenden Schauspieler*innen hoffnungslos abgedroschene Dialogzeilen an den Kopf werfen müssen; der Film erlaubt sich damit auch die zutiefst Dylan’sche Tendenz, die einnehmende Legende der profanen Wahrheit vorzuziehen: Dylan, Baez, Seeger, Russo/Rotolo – sie alle sind längst zu überlebensgrossen Ikonen geworden, zu abstrahierten popkulturellen Symbolfiguren, die nur dann angemessen fassbar werden, wenn man ihnen als Performer begegnet.

Edward Norton und Timothée Chalamet in «A Complete Unknown» / © Searchlight Pictures. All Rights Reserved.
Das bedeutet nicht, dass sämtliche Szenen, in denen in «A Complete Unknown» nicht gesungen wird, reine Zeitverschwendung wären. Gerade der 2014 94-jährig verstorbene Pete Seeger, der in vielen Nacherzählungen von Dylans Wandlung zum Rockmusiker – unter anderem auch in «I’m Not There» – als borniert-dogmatischer Folk-Purist abgetan wird, erfährt hier so etwas wie eine späte Ehrenrettung: Weder das Drehbuch noch Edward Nortons herausragende, anrührend nuancierte Darstellung verankern seine Enttäuschung über Dylans kontroversen Auftritt am Newport Folk Festival 1965 in einem veralteten, latent konservativen Weltbild, seiner Angst, die Deutungshoheit über «seine» Musikform zu verlieren, oder im verletzten Ego eines naiven alten Kommunisten. Der Seeger von Mangold, Cocks und Norton ist vielmehr ein stolzer Ziehvater, der voller Wehmut zu erkennen beginnt, dass der Junge, in dem er einst seinen eigenen Nachfolger sah, einen eigenen Willen hat.
Doch die emotional anregendsten Momente finden hier tatsächlich auf der Bühne statt: Dylan, der gebannt Seeger dabei zuschaut, wie er das Publikum zum Mitsingen animiert, Jahre später voller Irritation – aber ohne die Darbietung zu unterbrechen – bemerkt, wie sein Publikum bei der allerersten Performance von «The Times They Are a-Changin’» schon mitzusingen beginnt, und sich schliesslich bei einem gemeinsamen Auftritt mit Baez im angetrunkenen Zustand weigert, «Blowin‘ in the Wind» zu spielen, gegen Wunschkonzert-Setlists wettert und von der Bühne stapft. Fertig ist der dramaturgische Bogen zum ambivalenten Verhältnis, das der selbsternnante «Song and Dance Man» mit dem öffentlichen Image von sich und seiner Musik hat.
«Es ist Mangold hoch anzurechnen – und ein Beispiel für sein grundsolides Regiehandwerk –, wie viele aussagekräftige Details er in einer scheinbar simplen Song-Performance unterzubringen vermag.»
Dass «A Complete Unknown» den Drang verspürt, diese sich reimenden Szenen, in denen die Musik, Andrew Bucklands und Scott Morris‘ schnörkelloser Schnitt und Chalamets ausdrucksstarkes Mienenspiel alles Nötige kommunizieren, mit weitaus weniger subtilen Momenten zu ergänzen («200 people in that room and each one wants me to be somebody else»), ist schade. Dennoch ist es Mangold hoch anzurechnen – und ein Beispiel für sein grundsolides Regiehandwerk –, wie viele aussagekräftige Details er in einer scheinbar simplen Song-Performance unterzubringen vermag. Davon profitiert auch das obligate Liebesdreieck zwischen Dylan, Baez und Sylvie, das zunächst etwas gar schematisch wirkt, im dritten Akt aber von einem bittersüssen, grossartig inszenierten Duett von – wie könnte es anders sein? – «It Ain’t Me, Babe» eindrücklich abgeschlossen wird.

© Searchlight Pictures. All Rights Reserved.
«Print the legend, film the music.»
Dass so ein Projekt letztlich eine Torheit ist, steht ausser Frage. Biopics sind aufgrund ihrer Formelhaftigkeit von Natur aus ungeeignet dafür, ein Künstler*innen-Leben kongenial abzubilden – und wenn man es mit jemandem wie Bob Dylan zu tun bekommt, in dessen lyrischen Welten Bette Davis auf William Shakespeare trifft, der Cowboy-Engel dahinreitet, im Dunkeln leuchtende Jesusse (Jesen?) verkauft werden und «der Geist der Elektrizität in den Knochen ihres Gesichts heult», ist sowieso Hopfen und Malz verloren. Umso löblicher ist das Motto, mit dem sich «A Complete Unknown» diesem unmöglichen Unterfangen zu stellen scheint: «Print the legend, film the music.»
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Kinostart Deutschschweiz: 27.2.2025
Filmfakten: «A Complete Unknown» / Regie: James Mangold / Mit: Timothée Chalamet, Edward Norton, Elle Fanning, Monica Barbaro, Dan Fogler, Boyd Holbrook, Eriko Hatsune, Scoot McNairy, Norbert Leo Butz / USA / 141 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © Searchlight Pictures. All Rights Reserved.
James Mangolds unterhaltsames Bob-Dylan-Biopic «A Complete Unknown» umschifft zwar nicht alle Genre-Klischees, trifft aber die kluge Entscheidung, sich vor allem auf die Musik zu konzentrieren.
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