Basierend auf der eigenen Kindheit, erzählt Kenneth Branagh in «Belfast» von einer protestantischen Familie inmitten des schwelenden Nordirlandkonflikts. Was auf dem Papier berührend klingt, erweist sich in der Ausführung vor allem als klischiertes, unsauberes Filmhandwerk.
Die eigenen Kindheitserinnerungen zu verfilmen, ist in Mode – gerade bei männlichen Autorenfilmern. Alfonso Cuarón machte es 2018 vor, als er in «Roma» aus der Perspektive einer indigenen Haushälterin die Geschichte einer Familie im Mexico City der frühen Siebzigerjahre erzählte. Erst vor Kurzem legte Paolo Sorrentino das autobiografische Coming-of-Age-Drama «È stata la mano di Dio» (2021) vor – eine berührende Hommage an seine Eltern, an Neapel «unter» Diego Maradona sowie eine Aufarbeitung der Ereignisse, die einst seine Liebe fürs Kino entfachten. «The Fabelmans», der nächste Film von Steven Spielberg, wird ein Stück Autobiografie sein. Und auch Werke wie «Once Upon a Time in Hollywood» (2019) von Quentin Tarantino und «Licorice Pizza» (2021) von Paul Thomas Anderson sind, obschon keine filmischen Memoiren an sich, nostalgisch angehauchte Denkmäler an das Los Angeles, das der jeweilige Regisseur aus seiner Kindheit kennt.
«Die eigenen Kindheitserinnerungen zu verfilmen, ist in Mode – gerade bei männlichen Autorenfilmern.»
In diese Gruppe reiht sich nun auch Kenneth Branagh ein. Der renommierte Schauspieler und Regisseur mit seiner ebenso eindrücklichen wie vielseitigen Bühnen- und Leinwandkarriere – von Shakespeare und Agatha Christie bis Marvel und «Artemis Fowl» ist alles dabei – porträtiert im siebenfach oscarnominierten «Belfast» gut acht Monate im Leben einer protestantischen Arbeiterfamilie, die sich Ende der Sechzigerjahre inmitten des stetig eskalierenden Nordirlandkonflikts wiederfindet. Die Geschichte ist direkt aus Branaghs Kindheit gegriffen: Er selber ist gebürtiger «Belfastie»; als er neun Jahre alt war, übersiedelte er mit seiner Familie wegen der unsicheren Lage nach England.
Branaghs Avatar ist der durchschnittliche Grundschüler Buddy (Jude Hill), der mit seiner Mutter (Caitríona Balfe) und seinem Bruder (Lewis McAskie) in einer multireligiösen Working-Class-Strasse in Belfast wohnt. Doch der friedliche Alltag findet im August 1969 ein jähes Ende, als ein sektiererischer protestantischer Mob Jagd auf die ansässigen Katholiken und ihre Häuser macht und in der Folge der lokale Grosskotz Billy Clanton (Colin Morgan) mithilfe von Erpressung und Einschüchterung die bedingungslose Loyalität aller protestantischen Haushalte einfordert.
Als sich die Gewalt in der Stadt zu verbreiten beginnt und an der Kreuzug vor Buddys Strasse die Barrikaden aufgebaut werden, unterbreitet sein dauerverschuldeter Vater (Jamie Dornan), der in London als Tischler arbeitet, seiner Familie ein Angebot: auswandern und woanders von vorne beginnen, sei es in England, Kanada oder Australien – Hauptsache, fernab der «Troubles». Aber das ist leichter gesagt als getan, kennen Mutter und Söhne doch nichts anderes als Belfast, «where everybody knows you»; und Oma (Judi Dench) und Opa (Ciarán Hinds) kann man doch auch nicht einfach alleinlassen.
Dass Branagh, der seinen Film den «Daheimgebliebenen», den «Gegangenen» und den «unterwegs Verlorenen» widmet, in seiner Darstellung des Nordirlandkonflikts so manches stark vereinfacht, wenn nicht sogar verniedlicht, kann durch die kindliche Erzählperspektive seines Drehbuchs erklärt werden. Buddy ist neun Jahre alt – kein Wunder, entgehen ihm die sozialen und ethnischen Faktoren, die in den «Troubles» eine weitaus grössere Rolle spielten als konfessionelles Dogma und individuelle Vorurteile von Rüpeln und Gangstern wie Billy Clanton.
«Branagh übt sich zwar vordergründig in zutiefst persönlicher Autobiografie, verrennt sich aber hauptsächlich in frustrierend unspezifischen Klischees.»
Weniger entschuldbar ist hingegen, dass diese Vereinfachung und Verniedlichung auch auf der emotionalen und erzählerischen Ebene von «Belfast» stattfindet. Branagh übt sich zwar vordergründig in zutiefst persönlicher Autobiografie, verrennt sich aber hauptsächlich in frustrierend unspezifischen Klischees. Buddy erlebt die erste Liebe, gerät durch Gruppendruck in die eine oder andere brenzlige Situation und wohnt mit Kulleraugen Kino- und Theatervorführungen bei. Ma und Pa streiten sich über Geldsorgen und Zukunftsaussichten. Granny und Pop kämpfen mit gesundheitlichen Problemen, lassen flotte Grosseltern-Sprüche vom Stapel und tanzen wie zwei frisch Verliebte.
Das ist mitunter ganz ansprechend, in den Szenen mit Judi Dench und Ciarán Hinds sogar durchaus berührend, da ihnen es als Einzige konsequent gelingt, ihren austauschbaren Figurenschablonen so etwas wie Leben und Authentizität abzuringen. Die alte Charakterdarsteller*innen-Schule lässt grüssen. Jude Hill, Jamie Dornan und insbesondere Caitríona Balfe jedoch werden von Branagh und Schnittmeisterin Úna Ní Dhonghaíle («The Crown») hoffnungslos im Stich gelassen: Immer wieder wird in emotional bedeutsamen Szenen viel zu früh geschnitten, derweil stereotypen Coming-of-Age-Motiven unverhältnismässig viel Platz zugestanden wird.
«Buddy ist kaum mehr als ein engelsgesichtiger Zuschauer in seinem eigenen Leben; die Strassenschläue, die ihm attestiert wird, tritt nie konkret in Erscheinung.»
Verstärkt wird das Problem durch Branaghs skizzenhaftes Drehbuch, das, neben seinem Hang zum Allzubekannten, auch viel verkündet und wenig veranschaulicht. Buddy ist kaum mehr als ein engelsgesichtiger Zuschauer in seinem eigenen Leben; die Strassenschläue, die ihm attestiert wird, tritt nie konkret in Erscheinung. Parallel dazu steht sein Vater, dessen zwielichtige Seiten wiederholt erwähnt, aber weder von Branaghs Skript noch von Dornans Darbietung vertieft werden – es bleibt bei den unbezahlten Rechnungen, dem gesellig weitererzählten Pferderenn-Geheimtipp und einem einzigen, erzählerisch nicht weiter relevanten Pub-Besuch.
Und obwohl Buddys Mutter als die Figur mit der innigsten Beziehung zu Belfast etabliert wird, beginnt und endet die Illustration derselben mit einem Dialog mit einer Nachbarin, die innert 25 Sekunden drei abgedroschene Irland-Klischees absondert und in der nächsten Szene im angetrunkenen Zustand ein Volkslied grölt. Es ist, auch dank der nicht sonderlich subtil eingesetzen Van–Morrison-Songs auf dem Soundtrack, nicht das einzige Mal, dass der Film an eine besonders plumpe Werbung des nordirischen Tourismusbüros erinnert.
«Es ist schmerzlich offensichtlich, dass sich Branagh das Arbeiten in Schwarzweiss nicht gewohnt ist.»
So bleibt in «Belfast» zu viel klischiertes Stückwerk, um je wirklich überzeugen zu können – auch visuell. Mit Ausnahme einiger nachdrücklich in Szene gesetzter, entsprechend deplatziert wirkender Tableaux muten die Kompositionen von Branagh und seinem Hauskameramann Haris Zambarloukos zusammengewürfelt, ja geradezu ratlos an. Es ist schmerzlich offensichtlich, dass sich Branagh das Arbeiten in Schwarzweiss nicht gewohnt ist: Den Grautönen fehlt es an Tiefe und markanter Ausleuchtung; die bildgestalterischen Ideen reichen kaum über das marktschreierische Stilmittel, Kino- und Theaterszenen in Farbe zu zeigen, hinaus.
Man kann von den autobiografischen Werken von Cuarón, Sorrentino, Tarantino und Anderson halten, was man will – sie alle zeichnen sich allermindestens durch ihre formalen und erzählerischen Ambitionen, durch einen gewissen Mut zum Experiment aus. Bei Branagh jedoch kommt der Griff in die Schatzkiste der eigenen Erinnerungen einer halbherzigen Stilübung gleich: Seine Kindheit wird in «Belfast» zu profillosem 0815-Kino.
Über «Belfast» wird auch in Folge 40 des Maximum Cinema Filmpodcasts diskutiert.
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Kinostart Deutschschweiz: 24.2.2022
Filmfakten: «Belfast» / Regie: Kenneth Branagh / Mit: Jude Hill, Caitríona Balfe, Jamie Dornan, Ciarán Hinds, Judi Dench, Lewis McAskie, Colin Morgan, Lara McDonnell / Nordirland, USA / 98 Minuten
Bild- und Trailerquelle: Universal Pictures Switzerland
Kenneth Branagh erzählt in «Belfast» von der eigenen Kindheit, bedient dabei aber hauptsächlich abgedroschene Klischees. Und auch die Schwarzweiss-Ästhetik vermag nicht zu überzeugen.
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