Der französische Starregisseur Jacques Audiard hat im queeren Thrillerdrama-Musical «Emilia Pérez» Grosses vor. Doch die ausladenden formalen und erzählerischen Gesten erweisen sich schnell als ermüdende, frustrierend oberflächliche Effekthascherei.
Als Filmemacher ist Jacques Audiard ein leidenschaftlicher Tourist. Während die Karrieren anderer Regisseur*innen von wiederkehrenden erzählerischen Motiven und Milieus geprägt sind – Sean Baker macht bittersüsse Komödien über Sexarbeit in den USA, Céline Sciamma feinfühlige Dramen über nonkonforme Frauenfiguren –, gehört das thematische und stilistische Hakenschlagen zum Kerngeschäft des 72-jährigen Franzosen: Mal macht er ein Mafiaepos («Un prophète»), mal eine schwelgerische Romanze über eine Rollstuhlfahrerin («De rouille et d’os»), mal ein düsteres Immigrationsdrama mit Gangsterfilm-Versatzstücken («Dheepan»), mal einen revisionistischen Western über toxische Männlichkeit («The Sisters Brothers»), mal eine kleine Anthologie über das Liebesleben junger Menschen im zeitgenössischen Paris («Les Olympiades»). Audiard, so scheint es, liebt es, in ein Thema, einen Schauplatz, ein Genre, eine Tonalität hineinzuwandern, sich ein Projekt lang darin auszutoben und anschliessend weiterzuziehen.
Mit dieser Philosophie sowie seinem Flair für geschmackvolles, arthousefreundliches Spektakel – grosse Kameragesten, bombastische Musikuntermalung –, ist Audiard bislang ganz gut gefahren. «Un prophète» (2009), «De rouille et d’os» (2012) und der Palme-d’or-Gewinner «Dheepan» (2015) sind grundsolides Prestigekino; und selbst den unsteteren «The Sisters Brothers» und «Les Olympiades» gelingt es, Audiards ästhetische Stärken über seine Tendenz zu thematischer (touristischer?) Oberflächlichkeit obsiegen zu lassen.
In «Emilia Pérez», Audiards neuestem Wurf, geht die Rechnung jedoch nicht mehr auf. Zu eklatant sind die blinden Flecken dieser ambitiösen Mischung aus Narco-Thriller, modernem Musical, Telenovela und einfühlsamem Porträt einer Transfrau; zu willkürlich und ungelenk sind die formalen Pirouetten, zu denen sich Audiard hier versteigt.
Basierend auf seinem eigenen, von Boris Razons Roman «Écoute» (2018) inspirierten Opernlibretto, erzählt Audiard hier von der frustrierten Anwältin Rita (Zoe Saldaña), die vom berüchtigten mexikanischen Kartellboss Manitas Del Monte (Karla Sofía Gascón) den Auftrag erhält, eine geschlechtsangleichende Operation in die Wege zu leiten: Nach Jahrzehnten der Geschlechtsdysphorie will Manitas endlich ein neues Leben als Emilia Pérez anfangen – und die Kriminalität auch gleich hinter sich lassen.
«Der Anblick von singenden und tanzenden Menschenmassen und einer Zoe Saldaña, die nahtlos zwischen natürlichen Bewegungen und zackig choreografierten Tanzschritten hin- und herwechselt, ist durchaus ein beeindruckender.»
Zu diesem Zweck muss sich Manitas/Emilia nicht nur unters Messer eines skeptischen Chirurgen (Mark Ivanir) legen, sondern mit Ritas Hilfe auch den eigenen Tod vortäuschen. Zurück bleibt die ahnungslose Kartellbossgattin Jessi (Selena Gomez), die mit ihren beiden Kindern in die bitterkalte Schweiz verfrachtet wird, wo sie vor verfeindeten Kartellen sicher sein soll. Doch wie Emilia schliesslich herausfindet, ist es nicht so leicht, ein altes Leben einfach restlos aufzugeben.
Zwar gelingt es Audiard, Kameramann Paul Guilhaume («Les Olympiades», «Les Cinq Diables») und Choreograf Damien Jalet («Suspiria») im ersten Drittel des Films noch, ihre nachdrücklich zur Schau gestellte Bemühtheit um Dynamik in ansprechenden Unterhaltungswert umzumünzen: Die Kamera ist stets in Bewegung, der sich in Windeseile entfaltende Plot entwickelt sich unvorhergesehene Richtungen; und obwohl die Lieder von Camille und der Musikscore von Clément Ducol («Linda veut du poulet!») sich als überwiegend monoton, melodiearm und erschreckend motivlos herausstellen, ist der Anblick von singenden und tanzenden Menschenmassen und einer Zoe Saldaña («Avatar», «Guardians of the Galaxy»), die nahtlos zwischen natürlichen Bewegungen und zackig choreografierten Tanzschritten hin- und herwechselt, durchaus ein beeindruckender.
Doch mit fortschreitender Laufzeit offenbart sich, wie sehr es «Emilia Pérez» an Vorstellungsvermögen fehlt. Nachdem Emilia ihre Operation hinter sich gebracht hat und sich vier Jahre später wieder bei Rita meldet – in Form von «Por casualidad», einem der wenigen Song-Highlights des Films –, bleibt die Affiche bis zum Schluss in einem langfädig erzählten, irritierend oberflächlichen Familiendrama mit abgedroschenen Kartellthriller-Einschlägen stecken.
Nominell dreht sich dieser grössere Teil des Films um Emilia, die nach und nach die Rolle der designierten Protagonistin von Rita übernimmt, und die angemessen melodramatisch behandelte Frage, ob sie ihre Sehnsucht nach ihrer Familie und ihre Eifersucht auf Jessis neuen Liebhaber (Édgar Ramírez) wieder auf die schiefe Bahn führen wird. Dass Audiard aber nicht Melodramameister Pedro Almodóvar ist – trotz der Echos von «La piel que habito» (2011) und, überraschenderweise, «Madres paralelas» (2021), welche durch die Geschichte geistern –, zeigt nicht zuletzt die schwache Charakterisierung von Emilia. Trotz der einnehmenden Schauspielleistung der bekannten Telenovela-Darstellerin Karla Sofía Gascón («El señor de los cielos», «Nosotros los Nobles»), die sowohl als bedrohlich knurrender Macho-Gangster als auch als freundliche, aber bestimmte Geschäftsfrau überzeugt, reicht die Fantasie des Films nicht aus, um seine Titelfigur allzu weit über ihre Trans-Identiät hinaus zu definieren: Der Kampf, den die als herzensgut konzipierte Emilia letztlich auszufechten hat, ist der gegen die scheinbar noch immer in ihr schlummernde Boshaftigkeit von Manitas.
«Dass Audiard aber nicht Melodramameister Pedro Almodóvar ist, zeigt nicht zuletzt die schwache Charakterisierung von Emilia.»
Es ist eine erzählerische Überhöhung – eine katholisch-queere Variation auf das klassische Tragödien-Dilemma, ob tiefgreifende Schuld jemals wirklich gesühnt und vergeben werden kann –, die innerhalb des opernhaften Rahmens von «Emilia Pérez» tatsächlich funktionieren könnte. Passend zum Umstand jedoch, dass Audiard angerissene thematische Konflikte und potenziell spannende Grauzonen über weite Strecken ignoriert und sich stattdessen in seichte Ästhetik und simple Klischees flüchtet, landet dieser Ansatz schliesslich beim kruden Geschlechter-Essenzialismus: Manitas war böse, Emilia ist gut – so gut sogar, dass ihr Antlitz in den letzten Momenten des Films eine von namenlosen mexikanischen Statist*innen durch die Strassen getragene Marienstatue ziert.
«Diese Kombination aus leerer, zunehmend wirkungsloser Effekthascherei und ärgerlichen Verkürzungen, sei es in Bezug auf Emilia oder den ziemlich stereotyp in Szene gesetzten Schauplatz Mexiko, illustriert, auf welch verlorenem Posten Audiard in ‹Emilia Pérez› steht.»
Diese Kombination aus leerer, zunehmend wirkungsloser Effekthascherei und ärgerlichen Verkürzungen, sei es in Bezug auf Emilia oder den ziemlich stereotyp in Szene gesetzten Schauplatz Mexiko, illustriert, auf welch verlorenem Posten Audiard in «Emilia Pérez» steht. Es ist ein Film über Grenzen und deren Überschreitung – Grenzen zwischen Ländern, zwischen Geschlechtsidentitäten, zwischen Sexualitäten, zwischen Genres, zwischen Gesang und Dialog, zwischen Gut und Böse –, bei dem letztlich nur eine so richtig zum Vorschein kommt: jene, die Audiards touristischem Blick gesetzt ist.
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Kinostart Deutschschweiz: 21.11.2024
Filmfakten: «Emilia Pérez» / Regie: Jacques Audiard / Mit: Zoe Saldaña, Karla Sofía Gascón, Selena Gomez, Adriana Paz, Édgar Ramírez, Mark Ivanir / Frankreich / 132 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © PATHÉ FILMS AG 2024
Wie jeder Film von Jacques Audiard hat auch «Emilia Pérez» seine unterhaltsamen Momente. Über die langfädige Erzählung und das Fehlen jeder thematischer Substanz täuschen die aber nicht hinweg.
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