Ava DuVernay widmet sich in «When They See Us» einmal mehr brillant, empathisch und messerscharf dem strukturellen Rassismus in den USA. Obwohl sie einen Gerichtsfall von 1989 zu ihrem Fokus macht, könnte die aufwühlend-politische Miniserie auch 30 Jahre später kaum aktueller und notwendiger sein.
Der «Central Park Five»-Gerichtsfall, auf dem Ava DuVernays Miniserie basiert, sorgte weltweit für Aufsehen und gilt bis heute als erschreckendes Exempel für die rassistische Ungerechtigkeit der amerikanischen Justiz: Am 19. April 1989 wurde die weisse Joggerin Trisha Meili im Central Park angegriffen, vergewaltigt und schwer verletzt zurückgelassen. Das brutale Verbrechen erschütterte New York, wurde jedoch bald zu einem laut diskutierten Politikum, unter dem sich ganz andere Machtkämpfe abspielten: Von Anfang an grenzte die weisse Anklage den Verdacht auf eine Gruppe von jungen Afroamerikanern und Latinos aus dem Stadtteil Harlem ein, die sich an jenem Abend im Central Park befunden hatte. Schliesslich wurden die Teenager Antron McCray, Kevin Richardson, Yusef Salaam, Raymond Santana und Korey Wise – trotz fehlender Beweise und Augenzeugen – zu jeweils zwischen fünf und 15 Jahren Haft verurteilt.
Dass DuVernay diesen Gerichtsfall dramatisiert verarbeitet, scheint eine logische Weiterführung ihrer grossartigen oscarnominierten Netflix-Dokumentation «13th» (2016): Benannt nach dem 13. Zusatzartikel der Verfassung der Vereinigten Staaten, der 1865 offiziell die Sklaverei in den USA abschaffte, beleuchtet der Film die tief rassistischen Strukturen, die bis heute den Kern der amerikanischen Gesellschaft und ihres Rechtswesen bilden und unter anderem zur überproportionalen Masseninhaftierung der nicht-weissen Bevölkerung führen. DuVernays Dokumentation zeigt, wen dieses Ungleichgewicht am stärksten trifft: Struktureller Rassismus, Klassenunterschiede und die Vorurteile vieler Rechtssprechender sorgen dafür, dass schwarze Männer vor Gericht öfter verurteilt werden als weisse Angeklagte; dass ihre Strafen härter und länger ausfallen; und dass ihre inhaftierten Körper weiterhin ökonomisch gewinnbringend ausgebeutet werden.
«When They See Us» führt diese Gedanken gezielt weiter und kombiniert die sehr persönlichen Lebensgeschichten der jungen Männer mit einem universellen und zeitüberdauernden Anspruch. Keinen Moment lässt die Serie daran zweifeln, was die fünf Jugendlichen von Anfang an beteuerten: Antron (Caleel Harris), Kevin (Asante Blackk), Yusef (Ethan Herisse), Raymond (Marquis Rodriguez) und Korey (Jharrel Jerome, bekannt aus «Moonlight») sind unschuldig – auch wenn die Justiz dies erst 2002, als der wahre Täter sich zum Verbrechen bekannte, eingestand.
DuVernay zeigt klar und kompromisslos, dass es nie nur darum ging, einen Schuldigen für das furchtbare Verbrechen zu finden, sondern dass der ganze Fall von Anfang an rassistisch geprägt war. Deutlich wird dies unter anderem in schockierend inszenierten, klaustrophobischen Szenen, in denen die Polizei die Minderjährigen während Stunden festhält, ohne Verpflegung, Schlaf oder elterliche Begleitung befragt und mit unmenschlichen Taktiken zu Aussagen nötigt, oder in Momenten, in denen die Anklägerin Linda Fairstein (Felicity Huffman) den geschundenen Körper von Trisha Meili zu einem Symbol für ganz Amerika hochstilisiert und sich trotz fehlender Beweise nicht in ihrer tiefen Überzeugung beirren lässt, dass die Jugendlichen eine zu bekämpfende Gefahr darstellen. Auch die Macht der Medien, die einen grossen Teil zur Entmenschlichung der Angeklagten in den Augen der Öffentlichkeit beitrugen, wird thematisiert: Durch bewusst platziertes Einblenden der Berichterstattung, die sich rassistischer Sprache bedient und die verängstigten und vom Gerichtsfall überforderten Jugendlichen wiederholt als «Animals», «Packs of wolves» oder «Thugs» bezeichnet, schafft DuVernay verstörende Kontraste.
«Mit gerechtfertigter Wut, viel Sensibilität und Mitgefühl und einem grossartigen Schauspielensemble schreckt ‹When They See Us› nicht davor zurück, zu schockieren, zu bestürzen und aufzurütteln.»
Der Fall von 1989 ist und bleibt hochaktuell und relevant: Rassismus, Masseninhaftierungen und Polizeigewalt sind bis heute Schandflecken auf der Weste Amerikas, das von sich behauptet, ein Ort der Freiheit und gleicher Möglichkeiten für alle Menschen zu sein. Und jener Unternehmer, welcher damals im Fernsehen und auf der Titelseite der «New York Times» für die Todesstrafe der fünf Jugendlichen plädierte, sitzt heute als Präsident im Weissen Haus – eine Tatsache, die DuVernay das Publikum nie vergessen lässt. Mit gerechtfertigter Wut, viel Sensibilität und Mitgefühl und einem grossartigen Schauspielensemble schreckt «When They See Us» nicht davor zurück, zu schockieren, zu bestürzen und aufzurütteln. Der Misshandlung, Entmenschlichung und Verurteilung der fünf unschuldigen jungen Männer zuzusehen, ist durchgehend entsetzlich – aber für ein weisses Publikum dringend notwendig.
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Serienfakten: «When They See Us» / Regie: Ava DuVernay / Mit: Asante Blackk, Caleel Harris, Ethan Herisse, Jharrel Jerome, Marquis Rodriguez, Jovan Adepo, Chris Chalk, Justin Cunningham, Freddy Miyares, Aunjaune Ellis, Vera Farmiga, Felicity Huffman, John Leguizamo, Michael K. Williams / USA / 296 Minuten
Trailer- und Bildquelle: Netflix
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