Eine Welt ohne grosse Emotionen: Das verlangt die KI von den Menschen in «La Bête». Doch die thematisch vielschichtige, anregend spielerisch inszenierte Literaturverfilmung des französischen Regisseurs Bertrand Bonello argumentiert nicht nur, dass das eine furchterregnde Zukunftsvision ist, sondern nimmt sich auch gleich den historisch gewachsenen Drang nach Entmenschlichung an sich vor.
1903 veröffentlichte der amerikanisch-britische Schriftsteller Henry James – heute vor allem bekannt für seine Horrorerzählung «The Turn of the Screw» (1898) und seine introspektiv- kunstfertigen Romane «The Portrait of a Lady» (1881), «What Maisie Knew» (1897) und «The Wings of the Dove» (1902) – die Novelle «The Beast in the Jungle». Diese handelt von einem Mann, der nach Jahren eine alte Bekanntschaft wieder trifft, es sich jedoch verwehrt, mit ihr eine Beziehung einzugehen. Der Grund: Er fürchtet sich vor der «Bestie im Dschungel» – einer vagen Vorahnung, dass ihm eines Tages etwas Schreckliches zustossen wird.
Man kann diese Geschichte auf mehrere Arten deuten: als Parabel auf das zwiespältige Verhältnis der Menschheit mit extremen Emotionen; als Ausdruck der Gefühle der Einsamkeit, die Henry James Zeit seines Lebens geplagt haben sollen; als literarisches Beispiel des Kulturpessimismus, der im ausgehenden 19. Jahrhundert gerade unter europäischen Intellektuellen grassierte; als prophetischer Abgesang auf die alte Welt, die elf Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs bereits dabei war, ihrem Ende entgegenzutaumeln.
«Der französische Regisseur Betrand Bonello geht in seiner nominellen Verfilmung von Henry James‘ Novelle auf den ersten Blick einen etwas anderen Weg.»
Der französische Regisseur Betrand Bonello geht in seiner nominellen Verfilmung von James‘ Novelle auf den ersten Blick einen etwas anderen Weg. «La Bête» spielt in Paris im Jahr 2044: Nach einigen nicht näher definierten kataklysmischen Ereignissen in den 2020er Jahren – im Freien werden Atemschutzmasken getragen, einmal ist von einem Bürgerkrieg in den USA die Rede – hat die künstliche Intelligenz das Zepter auf der Welt übernommen. Die Menschheit, so die KI, sei zu impulsiv, um ihre eigenen Geschicke lenken zu können. Entsprechend ist klar reglementiert, wer welche Berufe ausüben darf: Wer einer anspruchsvollen Tätigkeit nachgehen will, muss die eigene DNA «reinigen» lassen, um sich von allzu starken Emotionen zu befreien. Allen anderen blüht entweder Arbeitslosigkeit oder ein sterbenslangweiliger Handlanger-Job.
Zu diesen «anderen» gehört auch Gabrielle (Léa Seydoux), die ihren Alltag damit verbringt, in regelmässigen Abständen die ewig gleiche Temperatur eines Datenkerns zu messen. Doch damit soll nun Schluss sein: In einem «Bewerbungsgespräch» mit der KI (gesprochen vom kanadischen Filmemacher Xavier Dolan) tritt sie für ihre Überzeugung ein, für einen spannenderen Beruf qualifiziert zu sein, und lässt sich trotz ihrer Skepsis zur obligaten DNA-Reinigung aufbieten.
Diese Prozedur besteht daraus, dass Gabrielle ihre früheren Leben besucht und über Generationen vererbte Gefühlsausbrüche und Traumata entdeckt, sodass ihre Hirnstruktur operativ so verändert werden kann, dass sie fortan allem, mit dem sie konfrontiert wird, mit stoischer Gelassenheit und perfektem Gleichmut begegnet. Ihre erste Station: Paris im Jahr 1910 – dem Jahr, in dem die Stadt von einer Jahrhundertflut heimgesucht wurde. Hier ist Gabrielle eine berühmte Pianistin, die mit einem Puppenfabrikanten (Martin Scali) verheiratet ist und in einem Kunstsalon zufällig den englischen Gentleman Louis (George MacKay) trifft, den sie vor Jahren in Neapel kennengelernt hat – und dem sie damals gestand, in ständiger Furcht vor einer düsteren Vorahnung zu leben.
Auf Umwegen schlägt Bonello – der vielseitige Regisseur hinter Filmen wie «Saint Laurent» (2014), «Nocturama» (2016) und «Zombi Child» (2019) – also doch noch den Bogen zu Henry James‘ Quellenmaterial. Doch weder die dystopische Rahmenhandlung noch die dritte Zeitebene, die im Laufe des Films noch eingeführt wird – Los Angeles, 2014 –, ist blosse Koketterie: Was «La Bête» mit «The Beast in the Jungle» macht, ist mustergültiges Adaptionshandwerk. Bonello und seine Co-Autoren Benjamin Charbit und Guillaume Bréaud nähern sich dem James-Stoff aus dem Fin de Siècle nicht mit übertriebener Reverenz und einem fehlgeleiteten Streben nach bedingungsloser Texttreue, sondern mit dem Willen, seine Relevanz für das 21. Jahrhundert auf kreative Weise fassbar zu machen.
«Was ‹La Bête› mit ‹The Beast in the Jungle› macht, ist mustergültiges Adaptionshandwerk. Bonello nähert sich dem Stoff aus dem Fin de Siècle nicht mit übertriebener Reverenz und einem fehlgeleiteten Streben nach bedingungsloser Texttreue, sondern mit dem Willen, seine Relevanz für das 21. Jahrhundert auf kreative Weise fassbar zu machen.»
«The Beast in the Jungle» entstammt einer Welt, die sich am Abgrund wähnte: Der europäische Imperialismus eskalierte zunehmend in Richtung Weltkrieg; der rapide technologische Fortschritt, vom Kino bis zum Maschinengewehr, stellte die alten Gewissheiten grundlegend infrage. «La Bête» ist sich bewusst, dass die Gegenwart von ähnlichen Ängsten geprägt ist: Unter den Grossmächten brodelt es; die Nachwehen der alten imperialistischen Ordnung sind noch immer nicht ausgestanden; das Kino ringt, stellvertretend für so manch andere Kunstform, um seine Zukunft, während Debatten über Sinn und Unsinn von künstlicher Intelligenz in allen Formen an der Tagesordnung sind.
Die Nähe zwischen diesen historischen Kontexten demonstriert Bonello schon in den Anfangsminuten des Films: Léa Seydoux («The French Dispatch», «No Time to Die») folgt in einem gigantischen Greenscreen-Raum den Anweisungen eines Regisseurs hinter der Kamera (natürlich gesprochen von Bonello selbst) – bis plötzlich die Integrität des Filmbildes kompromittiert zu sein scheint, Seydoux‘ Gesicht zu einem undurchsichtigen Pixelhaufen verschwimmt und sich diese Zeichen des digitalen Zerfalls nahtlos in die Pinselstriche der Gemälde verwandeln, die Pianistin Gabrielle in ihrem Pariser Salon betrachtet. Die Medien sind verschieden, die Diskurse unterscheiden sich in ihren Einzelheiten, doch das im Seine-Wasser versinkende Paris von 1910 trägt letztlich eben doch beunruhigend ähnliche Züge wie die Welt, die «La Bête» in der ersten Hälfte der 2020er Jahre vorfindet.
Gleichzeitig ist dieses anfängliche Spiel mit der im Kino sonst konventionell unantastbaren Bildqualität, mit der Autorität des Gezeigten, ein Signal, dass Bonello hier auf allen Ebenen gegen die Illusion von entrückter, emotionsloser Objektivität ankämpft, zu der die KI die Protagonistin verdonnern will. Realität verschwimmt bisweilen mit Traum, Halluzination und synthetischer Erinnerung, während Gabrielle eine Reise in ihr vergangenes Leben in Los Angeles sogar mehrmals erlebt – von Bonello und Schnittmeisterin Anita Roth mit einer desorientierenden, die Fiktion durchbrechenden Abruptheit inszeniert, die ans Springen einer zerkratzten Schallplatte erinnert.
Ja, selbst mit dem Abspann treibt der Film anregend Schindluder. Auf ein emotional aufwühlendes Ende, dessen Details hier selbstverständlich nicht verraten werden, folgt kein minutenlanger Abspann, der es dem Publikum erlauben würde, das Gesehene noch einen Moment lang setzen zu lassen. Stattdessen wird einige Sekunden lang ein herrlich profaner QR-Code eingeblendet, bevor der Spuk – «La Bête» – jäh vorbei ist. Die KI wäre stolz auf diese Verweigerung emotionaler Katharsis. (Der Code sollte übrigens unbedingt gescannt werden, denn der Link enthält nicht nur den vollständigen achtminütigen Abspann, sondern auch eine kleine Mid-Credits-Szene.)
«Diese ambitionierte Kollision von Genrekonventionen und -tonalitäten funktioniert sowohl im Kleinen als auch im Grossen: Während die einzelnen Episoden in sich stimmige Erzählbögen beschreiben, ergänzen sie sich gegenseitig auf immer wieder überraschende Weise.»
Doch trotz aller postmoderner Spielereien, von den formalen Verfremdungseffekten bis hin zu den Dreifachrollen von Léa Seydoux und George MacKay («Captain Fantastic», «1917»), zielt der Film konsequenterweise auf eine relativ klassische emotionale Anbindung des Publikums ab: Gabrielles unsicheres Verhältnis mit Louis im frühen 20. Jahrhundert ist ein tief empfundenes Kostüm-Melodrama, das Wiedersehen der beiden in einem an «Mulholland Drive» (2001) erinnernden Hollywood ein äusserst ungemütlicher Paranoia-Thriller, ihr gemeinsames Hadern mit den Anforderungen der schönen neuen KI-Welt ein nachdenkliches Stück Science-Fiction-Horror.
Diese ambitionierte Kollision von Genrekonventionen und -tonalitäten funktioniert sowohl im Kleinen als auch im Grossen: Während die einzelnen Episoden in sich stimmige Erzählbögen beschreiben, ergänzen sie sich gegenseitig auf immer wieder überraschende Weise. Gerade die Gegenüberstellung von Louis 1910 und Louis 2014 erweist sich als perzeptive Auseinandersetzung mit männlichen und weiblichen Rollenbildern: Ersterer mag sich als zuvorkommender Gentleman gerieren, während Letzterer ein beängstigend realistisch konzipierter, auf dem Isla-Vista-Mörder basierender Incel-«Influencer» ist – doch Bonellos parallele Inszenierung und MacKays hervorragendes Schauspiel machen deutlich, wie beide Inkarnationen von Louis letztlich erwarten, dass sich Gabrielle ihnen fügt, dass sie ihnen «zusteht».
Und das ist nur eine von vielen kleinen Geschichten, die sich in dieser eindrücklichen Bestandsaufnahme der Moderne verbergen. Anderswo sinniert «La Bête» etwa implizit über den fatalen Siegeszug des Realismus, indem er eine Verbindung zwischen den «möglichst realistischen» Porzellan- und Zelluloidpuppen von Gabrielles Ehemann, dem plappernden Roboterpüppchen im Designerhaus, das Gabrielle 2014 hütet, dem Escort-Roboter (Guslagie Malanda), mit dem man sich 2044 vergnügen kann, und der alles dominierenden künstlichen Intelligenz suggeriert: Auf ihrer Suche nach der ultimativen Simulation des Menschlichen hat sich die Menschheit schliesslich selbst obsolet gemacht.
Sogar der Nostalgie-Fetisch in der Unterhaltungsindustrie, mit dem vor allem das Kino in den 2020er Jahren zu kämpfen hat – Disney und Marvel lassen grüssen –, findet Platz in Bonellos Zukunftsvision. Denn was ist der einzige Ort im Paris der Zukunft, wo man noch so etwas wie Gefühle zeigen kann? Ein Club, in dem Abend für Abend ein anderes Jahr das Thema ist und man vor lauter 1960er-, 1970er- und 1980er-Nostalgie für ein paar Momente vergessen kann, dass man sich mangels genuiner Emotionen zu Tode langweilt – obschon selbst diese Form des Eskapismus ihren Reiz längst verloren zu haben scheint.
«Bonello nimmt die Gegenwart mit all ihren Ängsten und Neurosen ins Visier und schickt sich an, diesem Chaos mit einer erzählerisch und thematisch dichten, unverhohlen philosophischen Literaturadaption zu begegnen, die als Diagnose und Provokation, als Warnung und Satire zugleich zu verstehen ist.»
«La Bête» ist weder ein bescheidener noch ein einfacher Film. Bonello nimmt die Gegenwart mit all ihren Ängsten und Neurosen ins Visier und schickt sich an, diesem Chaos mit einer erzählerisch und thematisch dichten, unverhohlen philosophischen Literaturadaption zu begegnen, die als Diagnose und Provokation, als Warnung und Satire zugleich zu verstehen ist. Viele unserer Probleme sind hausgemacht, nicht wenige das Resultat historischer Kontinuitäten. Daraus aber zu schliessen, dass unser Heil in der ach so objektiven Technologie liegt, dass die Rettung unserer Welt eine Frage des richtigen Algorithmus ist, ist, so dieser grossartige, im besten Sinne zeitgemässe Film, ein kapitaler Fehlschluss. Unsere Gefühle mögen der Ursprung von so mancher Krise sein – doch ist eine Welt ohne sie überhaupt rettenswert?
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Kinostart Deutschschweiz: 8.8.2024
Filmfakten: «La Bête» / Regie: Bertrand Bonello / Mit: Léa Seydoux, George MacKay, Guslagie Malanda, Elina Löwensohn, Martin Scali, Dasha Nekrasova, Xavier Dolan / Frankreich, Kanada / 145 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © Sister Distribution
Bertrand Bonellos «La Bête» ist Kostüm-Melodrama, Paranoia-Thriller und Science-Fiction-Dystopie in einem – und hat mit dieser Mischung viel Kluges über die Brandherde der Gegenwart zu sagen.
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