Nach «The Irishman» legt Regie-Legende Martin Scorsese ein weiteres Epos über die amerikanische Geschichte vor: «Killers of the Flower Moon» beleuchtet die Mordserie, die in den Zwanzigerjahren das Reservat der Osage heimsuchte – und stellt dabei hochgradig relevante Fragen über die rassistischen Wurzeln der modernen USA.
Es ist eine fast schon emblematische Geschichte über den Umgang der USA mit seiner indigenen Bevölkerung, die der Journalist und Autor David Grann («The Lost City of Z») 2017 in seinem Non-Fiction-Buch «Killers of the Flower Moon: The Osage Murders and the Birth of the FBI» aufrollte: Die Osage-Nation, die im 19. Jahrhundert aus ihrem Stammland in Kansas und Missouri vertrieben worden war und nach einigen Irrungen und Wirrungen schliesslich ihr eigenes Reservat im Bundesstaat Oklahoma erstehen konnte, stiess um 1900 in ebenjenem Reservat auf Öl und avancierte quasi über Nacht zu einem der reichsten Völker der Welt – und erhielt von der US-Regierung bald darauf ein rassistisches Vormundsystem auferlegt, unter dem individuelle Osage nur indirekt auf ihr Vermögen zugreifen konnten.
Und bei diesen juristischen Ränkespielen sollte es nicht bleiben. In den 1920er Jahren brach im ölreichen Osage-Reservat das «Reign of Terror» an – eine Reihe von mysteriösen Todesfällen und Morden an Osage, bei denen vor allem eine Gemeinsamkeit ins Auge stach: Die erbrechtlichen Nutzniesser waren mit schöner Regelmässigkeit die weissen Vormunde der Opfer.
Dass es das noch junge Federal Bureau of Investigation, das mittlerweile weltberühmte FBI, war, das sich bei einem dieser Morde einen Namen machte, wusste Grann in seinem Buch denn auch entsprechend dramatisch aufzuarbeiten. Doch die Schlüsselfigur der Ermittlungen, Agent Tom White, kommt in der dreieinhalbstündigen Filmadaption «Killers of the Flower Moon», wo er von Jesse Plemons («I’m Thinking of Ending Things», «The Power of the Dog») gespielt wird, erst im letzten Drittel zum Zuge. Die «Rückstufung» Whites lässt es erahnen: Meisterregisseur Martin Scorsese und sein Co-Autor Eric Roth («A Star Is Born», «Dune») setzen in «Killers of the Flower Moon» andere Akzente als Grann.
Klar, die Grundzüge der Erzählung bleiben dieselben wie in der Buchvorlage: Ernest Burkhart (Leonardo DiCaprio) kommt mehr oder weniger perspektivlos aus dem Ersten Weltkrieg nach Hause, quartiert sich bei seinem Onkel, dem im Osage-Reservat lebenden Rinderbaron William King Hale (Robert De Niro), ein, beginnt als Chauffeur für die reichen Einheimischen zu arbeiten und heiratet schliesslich Mollie (Lily Gladstone), eine Osage aus wohlhabendem – aber bevormundetem – Hause, dessen Mitglieder offenbar systematisch ausgeschaltet werden.
Doch wo Grann die FBI-Ermittlungen mit grosser Kelle anrührt, konzentrieren sich Scorsese und Roth auf die zwischenmenschlichen und politischen Untiefen der Geschichte. «Killers of the Flower Moon» ist keine triumphale – ja, nicht einmal eine bittersüsse – Ode an Tom White, den amerikanischen Staat und seine für Recht und Ordnung sorgenden Institutionen. Vielmehr ist der Film das vielleicht fundierteste Kapitel in Scorseses anhaltendem Epos über die Wurzeln der Supermacht USA.
«‹Killers of the Flower Moon› ist das vielleicht fundierteste Kapitel in Scorseses anhaltendem Epos über die Wurzeln der Supermacht USA.»
Schon seit seinem Frühwerk – allermindestens seit dem während der US-Wirtschaftskrise spielenden B-Movie «Boxcar Bertha» (1972) – interessiert sich Scorsese für die historischen Prozesse, die mythisch verklärten Menschen, die verworrenen Intrigen und die allgegenwärtigen Verschränkungen von Politik und Kriminalität, die das moderne Amerika geformt haben. «Goodfellas» (1990), nach der «Godfather»-Trilogie wohl der Mafia-Klassiker schlechthin, ist nicht zuletzt eine Satire über die Ähnlichkeiten zwischen Ronald Reagans neoliberaler Vision und den altbewährten Methoden des organisierten Verbrechens. «Gangs of New York» (2002) zeigt die noch jungen Vereinigten Staaten als gesetzloses Schlachtfeld rivalisierender Interessengruppen, das als Blaupause für die politischen Grabenkämpfe des 20. Jahrhunderts zu verstehen ist. «The Aviator» (2004) und «Shutter Island» (2010) handeln vom psychischen Preis – vom pathologischen Fortschrittsdrang und den unterdrückten Traumata –, den die USA für ihre globale Vormachtstellung nach dem Zweiten Weltkrieg bezahlte.
Selbst «The Irishman», der grossartige Gangsterfilm-Abgesang, den Scorsese 2019 für Netflix drehte, passt in dieses Schema, erzählt er mit seiner Chronik einer jahrzehntelangen, sich immer wieder mit historischen Ereignissen kreuzenden Auftragskiller-Karriere doch letztlich von der Macht, die unreflektierte Jasager in der jüngeren Geschichte ausgeübt haben.
«Killers of the Flower Moon» vertieft diese Perspektiven. Scorsese, Roth und Schnittmeisterin Thelma Schoonmaker unterlaufen die dramaturgischen Krimi- und Western-Konventionen, die sie hier aufgreifen konsequent und enthalten dem Publikum somit das typische Genre-Vergnügen vor: Die Hintergründe der Osage-Mordserie werden kaum je als zu enthüllendes Mysterium behandelt; das Demaskieren von Tätern und Drahtziehern, das in einer weniger differenzierten Adaption von Granns Buch als schockierender Aha-Moment inszeniert worden wäre, wird hier mit ernüchternder Sachlichkeit vorgenommen. Dass William King Hale nicht der gutmütige Philanthrop ist, als der er sich gibt, ist nicht Anlass eines narrativen Wendepunkts, sondern geradezu logisch – auch dank der herausragend zurückhaltenden Darbietung von Robert De Niro («Taxi Driver», «Joker»), der es schafft, sein väterliches Gebaren ohne markante Änderung von Tonfall, Mimik oder Gestik ins Bedrohliche, ins Patriarchale kippen zu lassen.
Mit diesem Umgehen der konventionellen Spannungsbögen wird nicht nur der vielschichtigen Unterdrückung der indigenen amerikanischen Bevölkerung Rechnung getragen – warum so tun, als wäre diese historische Tatsache eine grosse Überraschung? –, sondern auch der Versuchung widerstanden, das von den Osage erlittene «Terrorregime» in eskapistische Unterhaltung umzumünzen.
«Der Reichtum der modernen USA ist, so der Film, mit dem Blut jener beschmiert, die von der weissen Mehrheit jahrhundertelang für minderwertig befunden wurden.»
Stattdessen stellt der Film seine Handlung in den Kontext des sich Anfang der Zwanzigerjahre langsam etablierenden amerikanischen Imperiums – mit dem Osage County als Fallbeispiel. Die «Zähmung» des wilden Westens befindet sich in seiner Endphase; der kulturelle Genozid der indigenen Völker wurde längst institutionalisiert; der alte koloniale Traum eines sich ganz in weisser Hand befindenden nordamerikanischen Kontinents steht kurz vor der Erfüllung. Es ist kein Zufall, dass «Killers of the Flower Moon» eine explizite ideologische Verbindung zwischen den Osage-Morden und dem Tulsa-Massaker herstellt, bei dem 1921 – ebenfalls in Oklahoma – Hunderte von Afroamerikaner*innen gelyncht wurden.
Unterstützt von Robbie Robertsons unheimlich pulsierendem Musikscore und den gespenstischen Echos von Volksliedern aus der amerikanischen Tradition, mutet «Killers of the Flower Moon» bisweilen an wie ein langer, von schwelendem Zorn geprägter Trauerzug – ein Trauerzug, bei dem sowohl die brutal ermordeten Osage als auch die Fantasie einer glorreichen US-Geschichte zu Grabe getragen werden: Der Reichtum der modernen USA ist, so der Film, mit dem Blut jener beschmiert, die von der weissen Mehrheit jahrhundertelang für minderwertig befunden wurden.
Entsprechend ist auch Tom Whites FBI-Untersuchung letztlich kaum mehr als ein kläglich unzureichender Versuch Amerikas, sich selbst von der eigenen Rechtschaffenheit zu überzeugen. Das stellt einerseits Whites reduzierte Rolle klar; andererseits unterstreicht es Scorsese mit einem schlichtweg atemberaubenden Epilog, der mit einem ebenso simplen wie raffinierten Mediumswechsel auf einen Schlag das FBI vollends entzaubert, die Komplizenschaft der US-Unterhaltungsindustrie mit romantisch verklärter Geschichtsschreibung anprangert, sich dem dominanten historischen Narrativ widersetzt und die eigene Rolle als alter weisser Hollywood-Regisseur in diesem komplexen Gefüge kritisch beleuchtet.
In einem Film, der – mit Ausnahme von Rodrigo Prietos eindrücklichen Panorama-Aufnahmen und ausgedehnten Kamerafahrten – bewusst auf ostentatives Spektakel verzichtet, ist diese wuchtige Schlusssalve umso effektiver, weil sie dem Publikum nicht erlaubt, sich in die vermeintliche moralische Überlegenheit der «aufgeklärten» Gegenwart zu flüchten: So wie das Private auch immer politisch ist, ist das Historische auch immer aktuell. Scorsese hat diese Art des Epilogs nicht erfunden – er hat sie in der Vergangenheit sogar schon selber eingesetzt –, aber in «Killers of the Flower Moon» entwickelt er sie auf eindringlich selbstreflexive Weise weiter.
«Dem Publikum wird so der fundamentale Widerspruch der Beziehung von Ernest und Mollie zugemutet – und mit ihm die Idee, dass rassistische Ausbeutung nicht ausschliesslich auf oberflächliche Vorurteile zurückzuführen ist.»
Vor diesem Hintergrund ist es besonders faszinierend, wie der Film die grundsätzlich asymmetrische Beziehung zwischen Ernest und Mollie handhabt. Denn Ernest ist, wie schon Robert De Niros Frank Sheeran in «The Irishman», einer jener nachgiebigen Abnicker, deren stilles Mitläufertum für so viel Elend in der jüngeren Weltgeschichte verantwortlich ist. Und trotzdem widmen Scorsese und Roth einen beträchtlichen Teil des ersten Filmdrittels der Liebe, welche die beiden augenscheinlich füreinander empfinden.
Es ist ein erzählerischer und schauspielerischer Drahtseilakt, den «Killers of the Flower Moon» beeindruckend souverän meistert. Das Paradox zwischen Ernests scheinbarer Zuneigung zu seiner Ehefrau und den zunehmend brutalen Aktionen gegen sie und ihre Familie, bei denen er beteiligt ist, wird niemals vollumfänglich aufgelöst – so wie auch Mollies anhaltendes Vertrauen in Ernest nicht als naive Torheit abgetan wird, sondern als aufrichtige, tief empfundene Emotion. Dem Publikum wird so der fundamentale Widerspruch der Beziehung zugemutet – und mit ihm die Idee, dass rassistische Ausbeutung nicht ausschliesslich auf oberflächliche Vorurteile zurückzuführen ist.
Leonardo DiCaprio, obschon wohl etwas zu alt für die Rolle des Ernest Burkhart, brilliert gerade in diesen intimen Sequenzen mit seiner Darstellung eines unsicheren Mannes, der sich immer und immer wieder aktiv dazu entscheidet, ungeheuerliches Unrecht geschehen zu lassen – und es mitunter sogar selber in die Wege zu leiten.
Doch es ist die grandiose Lily Gladstone, bekannt dank ihrer unvergesslichen Auftritte in «Certain Women» (2016) und «First Cow» (2019), die als Herzstück des Films fungiert: Ihre Mollie – schweigsam, aber in den entscheidenden Momenten scharfzüngig, stoisch, aber keineswegs apathisch – ist die wahre Identifikationsfigur der Erzählung; und es ist ihre Performance, so kalkuliert wie jene ihrer in die Ecke gedrängten Figur, die der Wut von «Killers of the Flower Moon» ausserhalb des Epilogs Ausdruck verleiht.
«Ja, ‹Killers of the Flower Moon› dauert dreieinhalb Stunden – und er ist jede einzelne Sekunde davon wert.»
Martin Scorsese ist also, wie bereits vor vier Jahren mit «The Irishman», ein 200-minütiges Meisterstück gelungen – eines, das unbequeme und absolut notwendige Fragen über die USA, über Historiografie, über die kolonial geprägte Gegenwart und die gesellschaftliche Rolle von Kunst stellt. Es steht zu hoffen, dass die allgemeine Rezeption dieses Mal über das pikierte Naserümpfen über die Länge des Films hinausgeht. Ja, «Killers of the Flower Moon» dauert dreieinhalb Stunden – und er ist jede einzelne Sekunde davon wert.
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Kinostart Deutschschweiz: 19.10.2023
Filmfakten: «Killers of the Flower Moon» / Regie: Martin Scorsese / Mit: Leonardo DiCaprio, Lily Gladstone, Robert De Niro, Jesse Plemons, Cara Jade Meyers, JaNae Collins, Jillian Dion, Tantoo Cardinal, Jason Isbell, William Belleau, John Lithgow, Brendan Fraser / USA / 206 Minuten
Bild- und Trailerquelle: © 2023 Paramount Pictures. All Rights Reserved.
In «Killers of the Flower Moon» nimmt Martin Scorsese gängige Western- und Krimi-Konventionen auseinander und schafft damit ein atemberaubendes Stück historisches Kino.
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