Am 15. Mai stimmt die Schweiz über das revidierte Filmgesetz ab – die sogenannte «Lex Netflix». Dieses verlangt, dass Streamingdienste von den Einnahmen, die sie in der Schweiz generieren, vier Prozent in das hiesige Filmschaffen investieren und so der Schweiz als Film- und Serienstandort zu mehr Sichtbarkeit und Anerkennung verhelfen. Doch welche Inhalte sollen es denn sein? Die Maximum-Cinema-Redaktion hat neun Vorschläge zusammengetragen für Filme und Serien, die wir uns nach der Annahme des Filmgesetzes auf Netflix und Co. wünschen.
«True Detective» im Thurgau: Spinnsch en art?
Okay, die Thurgauer Kantonspolizei klingt vielleicht nicht so cool wie «Louisiana State Police», und Namen wie Walo Hugentobler und Priska Sauter der KTD klingen wohl nicht so fancy wie Homicide Detective Rustin «Rust» Cohle (Matthew McConaughey) oder Martin «Marty» Hart (Woody Harrelson) aus der ersten Staffel der HBO-Serie «True Detective» von 2014. Aber wir haben sie im Osten: die unheimlichen Tatorte auf abgelegenen Bauernhöfen, bedrohliche Moorlandschaften (Hüttwiler Weiher! Thur! Hudelmoos!) und kauzige Verdächtige wie Pfarrer Burkart aus Amriswil, Hinterwäldler Markus aus Opfershofen und die stets freundliche, aber in krumme Dinge verstrickte Betreiberin Shenmi-Ling des chinesischen Restaurants «Smiling Elephant» in Frauenfeld. Für die grosse Fiktion ist alles da. Und mit ein wenig Geld und einem guten Drehbuch bringen auch wir ein schauriges Stück Serienmörder-Mysterium nach Mostindien. Vielleicht mit Lisa Brühlmann und Dominik Locher als Detektivpärchen? (Den Akzent bringen die schon hin.) Dazu ein Soundtrack von Black Sea Dahu? Ich fänds schaurig gut! / Simon Keller
Neofuturistischer Drogentrip: «Walpurgis»
Zürich in einer nahen Zukunft: Das Nachtleben floriert mehr als je zuvor – und damit auch das Geschäft mit neumodischen Drogen. Als an unterschiedlichen Raves vermehrt Menschen sterben, werden die Todesfälle rasch unverantwortlichem Konsum und damit einhergehenden Überdosen zugeschrieben. Erst als eine junge Forensikerin bei den Opfern fast nicht sichtbare okkulte Male entdeckt, gerät die scheinbar logische Theorie ins Wanken. Nach etlichen Nachtstunden in der Bibliothek steht fest: Die Male tauchten schon einmal in der Limmatstadt auf – das letzte Mal allerdings in der Zeit der Hexenverfolgungen… Mit der Suche nach einer Antwort beginnt eine wilde Jagd durch die pulsierende Musik und die psychedelischen Trips des Zürcher Nachtlebens und das dunkle Niederdörfli, das in seinen stillen Gassen perfide Geheimnisse aus einer anderen Zeit wahrt. Die zehnteilige Netflix-Serie «Walpurgis» ist sowohl ein packender Thriller mit visueller Sogwirkung als auch eine geschickte gesellschaftskritische Aufarbeitung der Zürcher Geschichte – binge-watching ist vorprogrammiert! / Aline Schlunegger
«Neophyten»: Zivildienst am Ende der Zivilisation
Frühherbst 2062, irgendwo im Klöntal. 50 Grad im Schatten, das Klima ist schon längst am Arsch. Während die Menschheit versucht, sich irgendwie an die neuen Lebensumstände anzupassen, breitet sich hier im Glarnerland mit rasanter Geschwindigkeit eine bisher unbekannte und hochgiftige Pflanzenart aus, die alles menschliche Leben auslöscht. Nachdem sämtliche Versuche, der Bedrohung auf militärische Weise Einhalt zu gebieten, gescheitert sind, greift die Schweizer Regierung zu einem radikalen Plan und schickt jene Leute ins Gebiet, die sich im Kampf gegen überbordende Natur bestens auskennen: den Zivildienst. Die düstere Endzeit-Serie «Neophyten» zeigt uns auf dem Schweizer Streamingportal OnePlus die letzten Tage eines zivilisierten Landes, das versucht, mit letzter Kraft den Klimakollaps abzuwenden. Mit den Jungschauspieler*innen Annina Walt («Frieden»), Rabea Lüthi («Sami, Joe und ich») und Pablo Caprez («Soul of a Beast») ist diese packende Serie über die letzten Reste der Menschlichkeit im Angesicht des drohenden Weltuntergangs ein Genuss, für Regisseur Tim Fehlbaum («Tides») der endgültige Durchbruch. / Olivier Samter
«Mordnacht» in drei Akten
Wie man in Luzern und Zürich weiss, haben Mordnächte in der Schweiz Tradition. Zeit, dieser Tradition einen etwas anderen filmischen Stempel aufzudrücken: Nach dem Vorbild von Netflix‘ «Fear Street»-Trilogie (2021) könnten sich Cyrill Oberholzer und Lara Stoll («Das Höllentor von Zürich») auf ihre bekannt verquere Art auf die Suche nach dem übernatürlichen Ursprung der Schweizer Mordlust machen. Nachdem ein erster Teil eine absurde Mordserie im modernen Zürich beleuchtet – Hauptverdächtiger ist selbstverständlich Patrick Frey –, begeben sich die beiden in Teil zwei in die politischen Untiefen der Schweizer 68er-Unruhen, wo ein mysteriöses Phantom (Patrick Frey?) prominente Wortführer*innen abmurkst. (Die entrüsteten und dadurch einschaltquotenfördernden Leitartikel sind vorprogrammiert.) Und zuletzt zeigt Teil drei der Welt, wie eine nicht familienfreundliche Version des Luzerner-Mordnacht-Musicals «Oh Ofen, oh Ofen…» aussieht. Das wird schräg, das wird anachronistisch, und seien wir ehrlich: Wir alle wollen sehen, was für Einfälle Oberholzer und Stoll mit einem grösseren Budget verwirklichen könnten. / Alan Mattli
«Boogie Woogie»: 007 in touristischer Mission für Amazon Prime
Was wäre, wenn der (oder die) nächste 007 eine Mission in der Schweiz hätte? Jetzt, wo die «James Bond»-Franchise Amazon gehört, hat auch der Streaming-Gigant ein Interesse daran, 007 in die Schweiz zu schicken. Und so führt der nächste Geheimauftrag einmal mehr in die Alpen: Ein Bösewicht hat seine nukleare Katastrophe im Kopf des Sechseläuten-Bööggs versteckt, und 007 bleibt nur noch ein Tag, um die Fernbedienung für die Entschärfung zu finden, die sich irgendwo in einem Bunker befindet. Die Suche führt ihn durch Schweizer Städte wie Bern, Lausanne, Zürich und Genf, Verfolgungsjagden und haarsträubende Action mitsamt Rega-Helikopter auf dem Gotthardpass oder am Matterhorn. Verfilmt wird das Ganze natürlich von Bettina Oberli («Wanda, mein Wunder»). / Franziska Merz
Historischer Alien-Horror, Arbeitstitel: «Seltzame Gestalt»
Im Sommer 1566 wurde die Stadt Basel angeblich Zeugin eines unheimlichen «Himmelsspektakels», beschrieben von einem zeitgenössischen Flugblatt als «seltzame gestalt»: Am 27. Juli soll die untergehende Sonne allen Glanz verloren und «Blut geweint» haben; in der Nacht folgte eine totale Mondfinsternis, am nächsten Morgen ein ebenso «blutiger» Sonnenaufgang – bevor am 7. August «viele grosse, schwarze Kugeln» am Himmel gesehen wurden, «welche vor der Sonne mit grosser Schnelle und Geschwindigkeit umherflogen und gegeneinander prallten, als ob sie einen Streit führten». Schon seit jeher ist das «Basler Flugblatt» ein gefundenes Fressen für Historiker*innen, Meteorolog*innen und natürlich auch allerlei Pseudowissenschaftler*innen, die darin eine Raumschiffschlacht zu erkennen glauben. Warum soll sich nicht auch das hiesige Filmschaffen daran gütlich tun? Ein bisschen paranoider Alien-Grusel à la Steven Spielbergs «War of the Worlds» (2005) oder Andrew Pattersons «The Vast of Night» (2019), ein bisschen unheimlich aufgeladener Zeitkolorit nach dem Vorbild von Robert Eggers‘ «The Witch» (2015), dazu eine Portion Mut zu Weirdness Marke Jordan Peele – und fertig ist die ambitionierte Renaissance-Science-Fiction-Kiste, mit der ein Simon Jaquemet («Chrieg») oder ein Hans Kaufmann («Der Büezer») ein angemessenes Genre-Debüt feiern könnte. / Alan Mattli
Dämonen und Geheimbünde in «Guldin Thor»
Die Schweiz: glitzernde Seen, sanft rauschende Bäche, saftig-grüne Wiesen und malerische Landschaften. Das Paradies auf Erden. Doch hinter der idyllischen Fassade lauert das Grauen. Denn zwischen schwindelerregend hohen Alpen, tief im Dunkeln gelegenen Tälern und abgeschiedenen Dörfern erheben sich böse, jahrhundertealte dämonische Wesen aus den Schatten und kriechen langsam wieder an die Oberfläche. Lorelei und ihre Tochter Leonie sind Abkömmlinge des uralten Geheimbundes «Guldin Thor», der die Dämonen seit archaischen Zeiten bekämpft und in Schach hält, dessen Zugang beim Goldenen Tor aber seit geraumer Zeit auf mysteriöse Weise verschlossen bleibt. Die Arbeit in der Guldin Thor ist gefährlich, es sind nur noch wenige Kämpfer übrig, und während die Organisation krampfhaft versucht, das Gleichgewicht zwischen Licht und Schatten zu bewahren, erheben sich in allen Kantonen die Geschöpfe der Finsternis: Der mächtige Stier von Uri verbreitet wieder Angst und Schrecken auf der Surenenalp. Im Waadtland steigt der verfluchte, von Kröten übersäte Ritter von La Sarraz aus seinem Grab und sinnt nach Rache. Und der inzwischen als friedlich geltende Bergmönch reisst in einem verschütteten Appenzeller Bergwerk wieder verirrte Seelen in die Tiefe. Und auch die Teufelsbrücke beginnt, wieder zu glühen, wie sie es seit dem letzten Kampf mit Luzifer nicht mehr getan hat… Es liegt nun an Lorelei und Leonie, die wenigen, in der ganzen Alpenrepublik verstreuten Mitkämpfer*innen zusammenzutrommeln und dem Bösen in allen Kantonen Einhalt zu gebieten. Die exklusiv für Netflix produzierte Mystery-Action-Serie «Guldin Thor» ergründet in ihren acht Folgen der ersten Staffel die dunkle und magische Seite der Schweiz und ist ein unterhaltsam-gruseliger Roadtrip durch die Schweizer Sagenwelt. / Matthias Ettlin
Superheldin im Zweiten Weltkrieg: «Helvetia»
Nach Serienerfolgen wie «Loki» und «Moon Knight» ist die Zeit reif für eine Schweizer Marvel-Superheldin auf Disney+. Auftritt «Helvetia», eine mit übernatürlichen Kräuterkräften ausgestattete Kämpferin für die Gerechtigkeit, gespielt von Ella Rumpf («Soul of a Beast»), die in dieser packenden siebenteiligen Action-Serie von Petra Volpe («Die göttliche Ordnung») im Zweiten Weltkrieg ein Nazi-Komplott in den Berner Alpen aufdecken muss – ein Plan, der nicht nur die Schweiz, sondern auch die ganze Menschheit ins Verderben stürzen könnte. Und auch der Cast wäre grandios – neben Ella Rumpf und den Marvel-Veteran*innen Chris Evans und Haley Atwell ebenfalls dabei: Sarah Spale («Wilder», «Platzspitzbaby») als mit dem Jenseits kommunizierende Dunkelfürstin Antelma, sowie Roeland Wiesnekker («Strähl») als korrupter Bundespräsident Ueli Wermelinger. «Helvetia»: Ein bisschen «Frieden», ein bisschen «Captain America», ein bisschen «Mad Heidi» – aber vor allem sehr viel «Made in Switzerland». / Olivier Samter
Mais im Bundeshuus: «Annahme der Wahl»
Wir schreiben das Jahr 2007: SVP-Bundesrat Christoph Blocher (Stefan Kurt) rechnet mit der Wiederwahl. Doch dann macht ihm plötzlich die Bündner Regierungsrätin Eveline Widmer-Schlumpf (Lilian Naef) einen Strich durch die Rechnung. Als sich Letztere eine Nacht lang Zeit wünscht, um zu bedenken, ob sie die Wahl annehmen will oder nicht, kommt es hinter den Bundeshauskulissen zu einer der spannendsten «Nacht der langen Messer» in der Geschichte – und der satirisch angehauchte Politthriller «Annahme der Wahl» von Sabine Boss («Jadgzeit») ist im Stile von Armando Iannuccis «The Death of Stalin» (2017) hautnah dabei. Für viel Aufmerksamkeit sorgt natürlich Gilles Tschudi als SVP-Oppositions-Megafon Caspar Baader; doch die wahre Offenbarung wird Andreas Mattis nuancierte Darstellung des politisch heimatlos gewordenen Bundesrates Samuel Schmid sein. Schweizer Politik ist alles andere als langweilig – und dank «Annahme der Wahl» und Apple TV+, seines Zeichens Oscargewinner («CODA») und Emmy-Topfavorit («Severance», «Ted Lasso»), erfährt das endlich auch ein internationales Publikum. / Alan Mattli
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Gestaltung: Olivier Samter
Titelbild: Photo by Glenn Carstens-Peters on Unsplash
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